StVG § 7 § 17; StVO § 1 Abs. 2
Leitsatz
Kann der bei Grün in eine Kreuzung Einfahrende wegen der Sichtbehinderung durch einen abbiegenden Lkw nicht sicher abschätzen, ob sich im Kreuzungsbereich bevorrechtigte Nachzügler befinden, muss er besondere Vorsicht walten lassen.
OLG Saarbrücken, Urt. v. 20.9.2024 – 3 U 28/24
1 Sachverhalt
I. Der Kläger nimmt die Beklagten aus einem Verkehrsunfall in Anspruch, der sich am 31.8.2022 in … im Kreuzungsbereich … ereignet hat.
Der Kläger befuhr mit seinem Fahrzeug Mercedes Benz 212 K/E350 CDI (amtl. Kz.: …) die … Straße aus Richtung Innenstadt kommend in Richtung … Die Erstbeklagte befuhr mit dem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug Mercedes Benz 245G/CLA 180 (amtl. Kz.: …) die … in Richtung … Im Kreuzungsbereich auf der … Straße kam es im Zusammenhang mit dem Abbiegevorgang eines Lkw von der … nach links in die … Straße in Richtung Innenstadt zur Kollision der beiden Fahrzeuge. Der Kläger ließ sein Fahrzeug zu einem Betrag von 15.553,47 EUR reparieren, der von seinem Kaskoversicherer bis auf eine Selbstbeteiligung von 300,– EUR reguliert wurde.
Mit der Klage hat der Kläger die Beklagten zuletzt auf Zahlung von 4.294,21 EUR (300,– EUR Selbstbeteiligung + 100,– EUR Wertminderung + 25,– Kostenpauschale + 1.815,21 EUR Gutachterkosten + 2.054,– Nutzungsausfall) nebst Zinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten von 1.375,88 EUR an sich selbst und Zahlung weiterer 5.705,88 EUR nebst Zinsen an seinen Kaskoversicherer in Anspruch genommen. Die Beklagten sind der Klage entgegengetreten.
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht, auf dessen tatsächliche Feststellungen gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO ergänzend Bezug genommen wird, der Klage bis auf einen Teil der vorgerichtlichen Anwaltskosten stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, ein Rotlichtverstoß bzw. eine überhöhte Geschwindigkeit eines der Unfallbeteiligten könne nicht festgestellt werden. Die Erstbeklagte habe aber gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen, da sie ohne freie Sicht und ohne auf von rechts kommende Fahrzeuge zu achten trotz des noch nicht vollständig abgebogenen Lkw unter Nutzung des dem Linksabbiegerverkehr aus der … vorbehaltenen Bereichs angefahren sei. Damit habe sie grob fahrlässig gehandelt, sodass die allein verbleibende Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs vollständig zurücktrete.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie eine Haftungsteilung anstreben. Der Kläger verteidigt die angefochtene Entscheidung.
2 Aus den Gründen:
II. Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. In der Sache hat sie teilweise Erfolg.
1. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass sowohl die Kläger- als auch die Beklagtenseite grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §§ 7, 17, 18 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 115 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) einzustehen haben, da die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellt. Dies wird von den Parteien nicht in Zweifel gezogen und begegnet keinen Bedenken.
2. Die danach gebotene Entscheidung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG, die aufgrund aller festgestellten, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen ist, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben (vgl. BGH, Urt. v. 10.10.2023 – VI ZR 287/22, Rn 12, juris), führt hier zwar zur überwiegenden, entgegen dem Landgericht aber nicht zur Alleinhaftung der Beklagten.
a) Keinen Bedenken begegnet, dass das Landgericht auf Beklagtenseite enen Rotlichtverstoß der Erstbeklagten für nicht bewiesen erachtet hat. Für einen solchen streitet entgegen der Auffassung des Klägers auch kein Anscheinsbeweis.
aa) Die Anwendung des Anscheinsbeweises setzt stets einen Geschehensablauf voraus, bei dem sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat. Dabei muss das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten im Rahmen des Unfallereignisses der Anscheinsbeweis Anwendung finden soll, schuldhaft gehandelt hat (vgl. BGH, Urt. v. 10.10.2023 – VI ZR 287/22, Rn 18, juris).
bb) Danach kommt ein Anscheinsbeweis für einen Rotlichtverstoß der Erstbeklagten hier nicht in Betracht. Dass der Kläger erst angefahren ist, nachdem die für ihn geltende Lichtzeichenanlage Grün anzeigte, lässt unter den gegebenen Umständen nach der Lebenserfahrung nicht den Schluss zu, dass die Erstbeklagte bei für sie angezeigtem Rotlicht in die Kreuzung eingefahren sein muss. Da der abbiegende Lkw den aus der … kommenden Verkehr an der Überquerung der Kreuzung hinderte, bleibt ebenso möglich, dass die Erstbeklagte ebenfalls bei Grün in die Kreuzung eingefahren ist u...