Der Anscheinsbeweis erlaubt es, bei typischen Geschehensabläufen aufgrund allgemeiner Erfahrungssätze auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne dass im konkreten Fall die Ursache bzw. das Verschulden festgestellt ist. Aufgrund der Typizität des Geschehensablaufs werden die für die Bejahung dieser Tatbestandsmerkmale erforderlichen Tatsachen vielmehr ohne weiteren Nachweis prima facie unterstellt. Der Richter darf also den konkreten Ablauf des zu beweisenden Geschehens in erheblichem Umfang offenlassen und sich – wie Prütting und Lepa treffend formuliert haben – mit einer "Irgendwie-Feststellung" begnügen, bei der die Lückenhaftigkeit der Sachverhaltsfeststellung bewusst hingenommen wird.
Kommt ein Autofahrer beispielsweise bei einer Geschwindigkeit von weniger als 50 km/h ohne erkennbaren Grund von der trockenen Fahrbahn ab und prallt gegen eine Hausecke mit der Folge, dass sein auf der Rückbank sitzender Beifahrer schwer verletzt wird, wird der Richter dem ersten Anschein nach von einem fahrlässigen Verhalten des Autofahrers ausgehen. Denn nach der Lebenserfahrung beruht ein solches Unfallgeschehen typischerweise darauf, dass der Fahrer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat. Dem Fahrer wird also eine Sorgfaltsverletzung angelastet, deren tatsächliche Voraussetzungen im konkreten Fall nicht feststehen. Gelingt es ihm nicht, den für sein Verschulden sprechenden Anschein durch den Nachweis von Tatsachen, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs ergibt, zu erschüttern, so haftet er seinem Beifahrer gegenüber aus § 823 Abs. 1 BGB auf Schadensersatz, obwohl eine konkrete Sorgfaltspflichtverletzung des Fahrers nicht festgestellt ist und die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Geschehensablauf im konkreten Fall gerade anders als typisch war. So hatte der Fahrer im Beispielsfall geltend gemacht, der im hinteren Bereich des Fahrzeugs befindliche Schäferhund seines Beifahrers sei plötzlich nach vorn auf das Lenkrad gesprungen, nachdem er einen unstreitig in der Nähe des Unfallortes laufenden Dalmatiner wahrgenommen habe. Angesichts der Tatsache, dass der Beifahrer behauptet hatte, der Fahrer sei deshalb von der Fahrbahn abgekommen, weil er sich wegen des Dalmatiners "versteuert" habe, lag dies durchaus im Rahmen des Möglichen. Da sich das Oberlandesgericht Frankfurt aber nicht davon überzeugen konnte, dass der Schäferhund den Dalmatiner vor dem Unfall auch tatsächlich wahrnehmen konnte, hat es den für ein Verschulden des Fahrers sprechenden Anschein nicht als entkräftet angesehen. Der Fahrer hatte weder bewiesen, wie groß der Abstand zwischen beiden Hunden war, noch dargetan, dass der Schäferhund auf dem rechten hinteren Sitz des Pkw gesessen und nicht, wie vom Beifahrer behauptet, vor den hinteren Sitzen auf dem Boden gelegen hatte, von wo aus keine Sichtmöglichkeit bestand. Der VI. Zivilsenat hat diese Erwägungen nicht beanstandet.
Diese Entscheidung zeigt, welche weitreichenden Konsequenzen die "Irgendwie-Feststellung", die bewusste Hinnahme der Lückenhaftigkeit der Sachverhaltsfeststellung hat. Lepa hat den Anscheinsbeweis aus diesem Grund – m.E. zu Recht – als "gefährliches Instrument" bzw. "Wagnis" bezeichnet. Bei seiner Anwendung ist deshalb grundsätzlich Zurückhaltung geboten.