Einführung
Der Anscheinsbeweis hat bereits eine lange Tradition. Er wurde vom Reichsgericht entwickelt und ist inzwischen gewohnheitsrechtlich anerkannt. Gleichwohl ist er, wie Musielak bereits im Jahre 1975 bemerkte, eine schillernde Erscheinung, um die sich zahlreiche Fragen ranken. Die Problematik wird durch das folgende einfache Beispiel verdeutlicht:
Angenommen, jeder Zweite von Ihnen verfällt innerhalb der ersten Viertelstunde meines Vortrags in Tiefschlaf. Spricht dann der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass mein Vortrag zu langweilig war und Sie deshalb eingeschlafen sind? Oder ist die Anwendung der Grundsätze über den Anscheinsbeweis von vornherein ausgeschlossen, weil der gestrige Abend so nett und anregend war, dass eine nicht näher bekannte Anzahl der Zuhörer ihr Bett erst in den frühen Morgenstunden gefunden hat? Wer entscheidet über diese Fragen? Die für abendliche Veranstaltungen äußerst aufgeschlossene Nachteule, die keine Feier vor fünf Uhr morgens verlässt und tagsüber gern mal eine Ruhepause einlegt, sobald sie nicht unmittelbar gefordert ist? Oder der auf seinen Schlaf Bedachte, der sich immer frühzeitig in sein Zimmer zurückzieht und Aufmerksamkeitsdefizite während des Tages nur im Zusammenwirken mit besonders ermüdenden Umständen kennt? Auch wenn ich annehme, dass keiner von ihnen Schadensersatzansprüche aus meinem Vortrag ableiten möchte, lohnt sich eine nähere Betrachtung der aufgeworfenen Fragen.
I. Wesen des Anscheinsbeweises
Der Anscheinsbeweis erlaubt es, bei typischen Geschehensabläufen aufgrund allgemeiner Erfahrungssätze auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne dass im konkreten Fall die Ursache bzw. das Verschulden festgestellt ist. Aufgrund der Typizität des Geschehensablaufs werden die für die Bejahung dieser Tatbestandsmerkmale erforderlichen Tatsachen vielmehr ohne weiteren Nachweis prima facie unterstellt. Der Richter darf also den konkreten Ablauf des zu beweisenden Geschehens in erheblichem Umfang offenlassen und sich – wie Prütting und Lepa treffend formuliert haben – mit einer "Irgendwie-Feststellung" begnügen, bei der die Lückenhaftigkeit der Sachverhaltsfeststellung bewusst hingenommen wird.
Kommt ein Autofahrer beispielsweise bei einer Geschwindigkeit von weniger als 50 km/h ohne erkennbaren Grund von der trockenen Fahrbahn ab und prallt gegen eine Hausecke mit der Folge, dass sein auf der Rückbank sitzender Beifahrer schwer verletzt wird, wird der Richter dem ersten Anschein nach von einem fahrlässigen Verhalten des Autofahrers ausgehen. Denn nach der Lebenserfahrung beruht ein solches Unfallgeschehen typischerweise darauf, dass der Fahrer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat. Dem Fahrer wird also eine Sorgfaltsverletzung angelastet, deren tatsächliche Voraussetzungen im konkreten Fall nicht feststehen. Gelingt es ihm nicht, den für sein Verschulden sprechenden Anschein durch den Nachweis von Tatsachen, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs ergibt, zu erschüttern, so haftet er seinem Beifahrer gegenüber aus § 823 Abs. 1 BGB auf Schadensersatz, obwohl eine konkrete Sorgfaltspflichtverletzung des Fahrers nicht festgestellt ist und die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Geschehensablauf im konkreten Fall gerade anders als typisch war. So hatte der Fahrer im Beispielsfall geltend gemacht, der im hinteren Bereich des Fahrzeugs befindliche Schäferhund seines Beifahrers sei plötzlich nach vorn auf das Lenkrad gesprungen, nachdem er einen unstreitig in der Nähe des Unfallortes laufenden Dalmatiner wahrgenommen habe. Angesichts der Tatsache, dass der Beifahrer behauptet hatte, der Fahrer sei deshalb von der Fahrbahn abgekommen, weil er sich wegen des Dalmatiners "versteuert" habe, lag dies durchaus im Rahmen des Möglichen. Da sich das Oberlandesgericht Frankfurt aber nicht davon überzeugen konnte, dass der Schäferhund den Dalmatiner vor dem Unfall auch tatsächlich wahrnehmen konnte, hat es den für ein Verschulden des Fahrers sprechenden Anschein nicht als entkräftet angesehen. Der Fahrer hatte weder bewiesen, wie groß der Abstand zwischen beiden Hunden war, noch dargetan, dass der Schäferhund auf dem rechten hinteren Sitz des Pkw gesessen und nicht, wie vom Beifahrer behauptet, vor den hinteren Sitzen auf dem Boden gelegen hatte, von wo aus keine Sichtmöglichkeit bestand. Der VI. Zivilsenat hat diese Erwägungen nicht beanstandet.
Diese Entscheidung zeigt, welche weitreichenden Konsequenzen die "Irgendwie-Feststellung", die bewusste Hinnahme der Lückenhaftigkeit der Sachverhaltsfeststellung hat. Lepa hat den Anscheinsbeweis aus diesem Grund – m.E. zu Recht ...