Einführung
Neben Unfallereignissen umfasst der Versicherungsschutz in der privaten Unfallversicherung auch erhöhte Kraftanstrengungen. Die sog. Unfallfiktion ist in allen Bedingungsgenerationen enthalten. In Rechtsprechung und Literatur wird die Auslegung des Begriffs aktuell problematisiert. So ist der Bezugsmaßstab der Kraftanstrengung streitig und wird die Transparenz der Regelung infrage gestellt. Dies bietet Anlass genug, den auslegungsbedürftigen Begriff hier eingehend zu untersuchen.
A. Systematische Einordnung
Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet, Ziff. 1.3 AUB 2010 (wortgleich mit Ziff. 1.3 AUB 2008, § 1 III AUB 94/88). Somit sind Gesundheitsschädigungen, die allein aufgrund einer willentlichen Eigenbewegung des Versicherten eingetreten sind, vom Versicherungsschutz grundsätzlich ausgeschlossen, da es an einem von außen wirkenden Ereignis fehlt.
Nach § 178 Abs. 1 VVG ist der Unfallversicherer verpflichtet, bei einem Unfall oder einem vertraglich dem Unfall gleichgestellten Ereignis der versicherten Person die vereinbarten Leistungen zu erbringen. Als einem Unfall gleichgestelltes Ereignis gilt nach Ziff. 1.4 AUB 2010 (wortgleich mit Ziff. 1.4 AUB 2008, § 1 IV AUB 94/88), wenn durch eine erhöhte Kraftanstrengung
an Gliedmaßen oder Wirbelsäule,
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ein Gelenk verrenkt wird oder |
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Muskeln, Sehnen, Bänder oder Kapseln gezerrt oder zerrissen werden. |
Mit dieser Erweiterung wird ein Teilbereich von Gesundheitsschäden durch willentliche Eigenbewegungen des Versicherten trotz Fehlens eines Unfalls in den Versicherungsschutz einbezogen. Es wird also ein Unfallereignis fingiert, weshalb man auch von einer Unfallfiktion spricht. Eine erhöhte Kraftanstrengung als rein innerkörperlicher Vorgang und ein Unfallereignis schließen sich begrifflich aus. Ein dem Unfall gleichgestelltes Ereignis ist nach dem Bedingungswortlaut nur gegeben bei Eigenbewegungen in Form einer erhöhten Kraftanstrengung, die zu einer der näher bezeichneten Verletzungen an bestimmten Gliedmaßen geführt hat.
B. Begriff der erhöhten Kraftanstrengung
I. Kraftanstrengung
Während jede Bewegung einen Muskeleinsatz und somit einen gewissen Kraftaufwand erfordert, beinhaltet schon der Wortsinn des Begriffs "Kraftanstrengung" eine über das normale Maß hinausgehende Kraftentfaltung. Ein gewisser Aufwand an Kraftentfaltung wird nach allgemeinem Sprachgebrauch erst bei einer besonderen Belastung zu einer Anstrengung, da die "Anstrengung" in ihrer Wortbedeutung Begriffe impliziert wie "stressen", "schlauchen", "viel abverlangen" "strapazieren". Sprachliche Synonyme für "sich anstrengen" sind laut Duden etwa "seine ganze Kraft aufbieten", "sich abmühen" oder "sich abkämpfen". Auch der Begriff der "Kraft" – synonym "Stärke" – beinhaltet einen erheblichen – also über das normale Maß alltäglicher Bewegungsabläufe hinausgehenden – Muskeleinsatz.
Normale Handlungen des täglichen Lebens, die zwar einen gewissen Muskeleinsatz, aber nach allgemeiner Lebensauffassung keinen bemerkenswerten Krafteinsatz erfordern, bleiben daher schon nach dem Wortsinn vom Versicherungsschutz ausgeschlossen. In diesen Fällen ist auch eine dem Unfall vergleichbare Gefahrenlage für die körperliche Unversehrtheit nicht gegeben, die eine Bewertung im Sinne eines einem Unfall gleichgestellten Ereignisses und damit eine Erweiterung des Versicherungsschutzes im Sinne der Unfallfiktion rechtfertigt.
II. Erhöht
Das Erfordernis einer erhöhten Kraftanstrengung scheint eine weitere Steigerung des geforderten Kraftaufwandes zu beinhalten. Wie oben dargestellt, verlangt aber bereits der Begriff der Kraftanstrengung eine erhebliche Entfaltung von Muskelkraft. Insofern dient das Merkmal "erhöht" der Klarstellung und dem besseren Verständnis des durchschnittlichen Versicherungsnehmers, dass nicht jeder Einsatz von Muskelkraft, sondern nur ein erheblicher, bemerkenswerter Kraftaufwand gefordert ist. Die AUB 61 enthalten nur den Begriff der Kraftanstrengung. Der Zusatz "erhöht" in den nachfolgenden Bedingungswerken (AUB 2010/2008/99/94/88) hat lediglich eine klarstellende Funktion und sollte keine inhaltliche Änderung der Bewertung bewirken. Die praktischen Anwendungsprobleme der Unfallfiktion sind insoweit bei allen Bedingungsgenerationen gleich, da letztlich entscheidend ist, wie der Begriff der Kraftanstrengung auszulegen ist und nach welchem Beurteilungsmaßstab festgestellt werden kann (siehe dazu unten D.), ob eine Kraftanstrengung vorl...