BGB § 254; StVG § 9; GG Art. 103 Abs. 1
Leitsatz
Geht ein Gericht einer von der Partei vorgetragenen alternativen Möglichkeit einer Unfallverursachung nicht nach, die für die Partei eine günstigere Beurteilung ermöglicht, liegt ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vor.
(Leitsatz der Schriftleitung)
BGH, Beschl. v. 19.8.2014 – VI ZR 308/13
Sachverhalt
Der klagende Zeitsoldat, der zum Unfallzeitpunkt bei Dunkelheit eine Tarnuniform trug, wurde bei der Überquerung einer Straße auf dem Fußgängerüberweg von dem von dem Bekl. zu 1) geführten Kfz erfasst und schwer verletzt. Der Kl. hat behauptet, der Bekl. zu 1) habe sich der Unfallstelle mit überhöhter Geschwindigkeit genähert, der Bekl. zu 1) hat behauptet, der Kl. sei plötzlich und unvermittelt im Lichtkegel der Scheinwerfer des Kfz aufgetaucht. Das BG hat die von dem LG erlassene Entscheidung im Verfahren nach § 522 ZPO im Wesentlichen bestätigt, dass die Bekl. dem Kl. 50 % seiner weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen habe. Das BG führte aus, der Kl. habe sich durch sein Beharren auf seinem Vorrecht einer offensichtlichen Selbstgefährdung ausgesetzt. Der Kl. hatte in der Berufung unter Beweisantritt vorgetragen, der Bekl. zu 1) habe nach dem Unfall gegenüber der von ihm benannten Zeugin erklärt, mit einer Geschwindigkeit von 60 bis 65 km/h gefahren zu sein. Das BG vernahm die Zeugin nicht zu dieser Behauptung.
Der BGH sah in dieser Verfahrensweise wie in weiteren von ihm angeführten Begründungsmängeln des Beschlusses eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und hob den Beschluss des BG auf und verwies die Sache an das BG zurück.
2 Aus den Gründen:
[6] "… b) Gegen diese Beurteilung wendet sich die Nichtzulassungsbeschwerde mit Erfolg. Sie beanstandet zu Recht, dass das BG eine vom Kl. vorgetragene alternative Möglichkeit der Unfallverursachung, die ein schuldhaftes Verhalten des Kl. ausschließen oder jedenfalls in günstigerem Licht erscheinen lassen könnte, unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht berücksichtigt hat. Der Kl. hatte … vorgetragen, der Bekl. zu 1) habe seiner Lebensgefährtin unmittelbar nach dem Unfall erklärt, mit einer Geschwindigkeit von 60 bis 65 km/h gefahren zu sein. Die vom Kl. zum Beweis dieser Behauptung benannte Zeugin S. ist zu dieser Frage nicht vernommen worden. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt darüber hinaus zu Recht, dass das BG die Angaben des Sachverständigen in seinem Gutachten … sowie in der mündlichen Verhandlung … nicht berücksichtigt hat, wonach die Geschwindigkeit des Fahrzeugs der Bekl. noch nach der Kollision rund 45 km/h betragen habe bzw. wonach von einer Kollisionsgeschwindigkeit von 45 bis 50 km/h auszugehen sei, obwohl der Bekl. zu 1) vor der Kollision eine Vollbremsung eingeleitet hatte. Diese ihm günstigen Angaben hat sich der Kl. jedenfalls konkludent zu Eigen gemacht (vgl. Senatsurt. v. 8.1.1991, VersR 1991, 467, 468; Senatsbeschl. v. 30.11.2010, VersR 2011, 1158 Rn 9)."
[7] Das BG hat darüber hinaus – wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht geltend macht – den Vortrag des Kl. … nicht berücksichtigt, wonach der Bekl. die örtlichen Verhältnisse bestens kenne, weil er in der Nähe wohne und deshalb gewusst habe, dass sich dort ein Fußgängerüberweg befinde, der zu der Kaserne führe und von Soldaten in der Zeit zwischen 7.00 Uhr und 7.15 Uhr benutzt werde.
[8] 2. Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das BG bei der gebotenen Berücksichtigung des Vorbringens des Kl. zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre.
[9] 3. Bei der neuen Verhandlung wird das BG Gelegenheit haben, sich auch mit den weiteren Einwendungen des Kl. auseinanderzusetzen. Es wird dabei insb. zu beachten haben, dass der Ersatzanspruch des Kl., den als Fußgänger im Gegensatz zu den Bekl. keine Gefährdungshaftung trifft, gem. § 9 StVG, § 254 BGB nur dann gekürzt werden darf, wenn feststeht, dass er den Schaden durch sein Verhalten mitverursacht oder mitverschuldet hat. Auf die “bloße Unterstellung der wahrscheinlichsten Parameter‘ (vgl. Zurückweisungsbeschluss S. 3 unter 2. a) kann ein Mitverschulden des Kl. nicht gestützt werden. Erforderlich ist vielmehr eine Überzeugung des Gerichts nach dem Beweismaß des § 286 ZPO. Die Darlegungs- und Beweislast für ein Fehlverhalten des Kl. trifft dabei die Bekl.
[10] Das BG wird auch zu berücksichtigen haben, dass es sich bei dem Schmerzensgeldanspruch und dem Anspruch auf Ersatz materiellen Schadensersatzes um prozessual selbstständige Streitgegenstände handelt (Senat, Beschl. v. 25.4.1989 – VI ZB 13/89, VersR 1989, 818; Urt. v. 22.5.1984, VersR 1984, 782, 783; BGH, Urt. v. 18.3.1959, BGHZ 30, 7, 18; Zöller, ZPO, 30. Auflage, Einleitung Rn 73). Sie unterliegen jeweils für sich genommen dem Verbot der reformatio in peius (vgl. BGH, Urt. v. 12.9.2002, VersR 2003, 509).“
3 Anmerkung
Der Anspruch auf rechtliches Gehör, der eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und des Menschenwürdeschutzes darstellt (BVerfGE 107, 395, 409; BVerfGE 63, 332, 337; BGHZ 118, 312, 321) bezweckt, dem Betroffenem in ...