BGB § 254 Abs. 1; StVG § 7 Abs. 1 § 9 § 18 Abs. 1; StVO § 20 Abs. 1 § 25 Abs. 3; VVG 3 115 Abs. 1 Nr. 1 und 4
Leitsatz
1. Im Rahmen des PKH-Verfahrens ist der ASt. nicht verpflichtet, zusätzlich zu dem PKH-Gesuch bei Anbringung in der Berufungsinstanz die Berufung einzulegen und zu begründen.
2. Ein Teilurteil über eine begehrte Feststellung in einem Schadensersatzprozess ist dann zulässig, wenn der Rechtsstreit hinsichtlich der Haftungsquote entscheidungsreif ist und der streitige Leistungsanspruch hinsichtlich der Haftungsquote in einem Grundurteil beschieden wird.
3. Ein Richter ist nicht verpflichtet, auf alle auch für seine Entscheidung unerheblichen Gesichtspunkte einzugehen.
4. Bei der Prüfung der Vermeidbarkeit des Unfallereignisses für einen Idealfahrer darf nicht allein auf die Vermeidbarkeit nach der Reaktionsaufforderung abgestellt werden, sondern es ist auch zu prüfen, ob ein Idealfahrer bei gebotener defensiver Fahrweise in die gefahrträchtige Situation geraten wäre.
5. Rechtspflichten und Obliegenheiten des Fußgängers, bei Dunkelheit keine dunkle Kleidung zu tragen, bestehen nicht. Desgleichen ist der Fußgänger in dieser Situation nicht verpflichtet, von einer Überquerung der Fahrbahn abzusehen.
6. § 20 StVO stellt besondere erhöhte Anforderungen an den motorisierten Verkehrsteilnehmer, weil mit fehlerhaftem gefahrerhöhendem Verhalten der den Bus verlassenden Fußgänger zu rechnen ist.
7. Eine Kürzung aller Schadensersatzansprüche auf Null unter dem Gesichtspunkt des Mitverschuldens kommt kaum in Betracht.
(Leitsätze der Schriftleitung)
OLG München, Urt. v. 5.5.2017 – 10 U 1750/15
Sachverhalt
Die Kl. macht gegen die Bekl. Ansprüche auf Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall geltend. Die Bekl. fuhr mit ihrem Pkw auf einer Ausfallstraße ortsauswärts. Die Kl. wollte die Straße überqueren. Sie war kurz zuvor aus einem Linienbus ausgestiegen und bewegte sich aus der Fahrtrichtung der Bekl. zu 1 die Fahrbahn überquerend, um auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Einkaufsmarkt zu erreichen. Vor der Kollision des Fahrzeuges der Bekl. zu 1 mit der Kl. hielt die Bekl. zu 1 eine Ausgangsgeschwindigkeit von 34 km/h ein und reagierte auf die in ihre Fahrbahn laufende Kl. erst nach 1,5 Sek. mit einer Bremsung. Die Kl. wurde von dem Fahrzeug der Bekl. mit dessen linker Vorderseite erfasst und auf die Motorhaube aufgeladen. Die Kl. schlug mit dem Kopf an die Hinterkante der Motorhaube und wurde anschließend etwa 6 Meter entfernt auf die Fahrbahn geschleudert.
Das LG hat die Klage unter Annahme eines Mitverschuldens der Kl. von 100 % in voller Höhe abgewiesen. Dem folgte das Berufungsgericht nicht.
2 Aus den Gründen:
[10] "… B. Die Entscheidung des LG erweist sich – nach abweichender rechtlicher Beurteilung durch den Senat – als nicht überzeugend, soweit der Kl. jeglicher Ersatz für Sach- und Vermögensschäden, sowie jegliche Entschädigung für Personenschäden versagt wurden. Unrichtig sind insbesondere einerseits die Bemessung und Begründung eines zur Alleinhaftung führenden. Mitverschuldens von 100 %, andererseits die Erwägungen zu den straßenverkehrsrechtlichen Sorgfaltsanforderungen eines an Bushaltestellen vorbeifahrenden Kraftfahrers und zu dem von einem “Idealfahrer‘ zu fordernden Verhalten. Somit ist der Feststellungsanspruch der Kl. – den sie im Verhältnis zum erstinstanzlichen Verfahren auf den vom Senat im Prozesskostenhilfebeschluss festgelegten Umfang von 50 % beschränkt hat – begründet. Im Grundsatz gilt dies auch für die Leistungsanträge der Kl., die allerdings wegen noch fehlender Feststellungen zur zwischen den Parteien streitigen Schadenshöhe im derzeitigen Verfahrensstand nicht entscheidungsreif sind."
[11] I. Die Kl. hat ihre Berufung form- und fristgerecht eingelegt und begründet.
[12] a) Die Bekl. möchten dies unter dem Gesichtspunkt bezweifeln, die Antragstellung zur Prozesskostenhilfe habe mit einer Berufungseinlegung begleitet werden müssen. Dies sei ohne Weiteres auch bei schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen möglich und müsse zwingend “immer sofort unabhängig (von) der Gewährung der Prozesskostenhilfe erfolgen, da anderenfalls eine mittellose Partei auch Notfristen wegen ihrer Mittellosigkeit missachten könne‘.
[13] b) Die Bekl. übersehen dabei jedoch zweierlei: Zum ersten steht diese Rechtsauffassung in Widerspruch zu st. höchstrichterlicher Rspr. und ist deswegen nicht vertretbar. Ein Wiedereinsetzungsgesuch nach Bewilligung der Prozesskostenhilfe – Rechtzeitigkeit (§ 234 Abs. 1 S. 1 u. 2 ZPO) und gleichzeitige Nachholung der versäumten Prozesshandlungen (§ 236 Abs. 2 S. 2 ZPO) wie im Streitfall vorausgesetzt – ist begründet, wenn glaubhaft gemacht wurde (§ 236 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 ZPO), schuldlos an der Wahrung der Berufungs- und der Berufungsbegründungsfrist gehindert gewesen zu sein. Die Mittellosigkeit einer Partei stellt einen Entschuldigungsgrund (§ 233 ZPO) dar, wenn sie die Ursache für die Fristversäumung ist. Das ist dann der Fall, wenn sich die Partei infolge der Mittellosigkeit außerstande sieht, einen Rechtsanwalt mi...