GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 139 Abs. 2
Leitsatz
Hinweis: Das in zfs 2/2015, 89 f. veröffentlichte Urteil ist unter falscher Instanz, Entscheidungsdatum und Aktenzeichen abgedruckt worden. Die richtige Entscheidungsangabe lautet: LG Oldenburg, Urt. v. 3.4.2014 – 5 O 2164/12. Das redaktionelle Versehen bitten wir zu entschuldigen.
Erteilt das Gericht einen rechtlichen Hinweis in einer entscheidungserheblichen Frage, so darf es diese Frage im Urteil nicht abweichend von seiner geäußerten Rechtsauffassung entscheiden, ohne die Verfahrensbeteiligten zuvor auf die Änderung der rechtlichen Beurteilung hingewiesen und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben zu haben.
BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – VI ZR 530/12
Sachverhalt
Der Kl. nimmt die Bekl. aus einem behaupteten Verkehrsunfall auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Nach der Darstellung des Kl. sei er mit seinem Pkw auf der linken Fahrspur der Straße gefahren. Versetzt hinter ihm sei der Bekl. zu 2), Fahrer und Halter des bei der Bekl. zu 1) haftpflichtversichert, mit seinem Pkw auf der rechten Fahrspur gefahren. Das Fahrzeug des Bekl. zu 2) sei schneller als das des Kl. gewesen. Plötzlich habe der Bekl. zu 2) sein Fahrzeug nach links auf den linken Fahrstreifen gelenkt. Dabei müsse er das Fahrzeug des Kl. übersehen und mit seinem Fahrzeug gestreift haben. Das LG hat mit der Begründung, dass ein manipulierter Unfall vorliege, die Klage abgewiesen.
Während des Berufungsverfahrens, in dem der Kl. seinen Klageanspruch weiter verfolgt hat, hat das BG in einer terminvorbereitenden Verfügung darauf hingewiesen, dass die Berufung des Kl. unbegründet sein dürfte. Das LG sei zutreffend davon ausgegangen, dass für das Vorliegen eines manipulierten Unfalls zahlreiche Indizien sprächen. Hinzu komme, dass nach den Feststellungen des Sachverständigen zwei Beulen an der Beifahrertür des Fahrzeugs des Kl. bereits vor dem Unfall vorhanden gewesen seien. Ein Geschädigter, der das Vorhandensein von Vorschäden bestreite, könne auch nicht Ersatz für diejenigen Schäden zugesprochen werden, die nach dem Gutachten Folge des Unfallereignisses sein könnte. Diese Hinweise wiederholte das Gericht in der mündlichen Verhandlung. In dem auf diese mündliche Verhandlung ergangenen Urteil hat das BG ohne Hinweis auf die inzwischen erfolgte Änderung seiner Rechtsauffassung und ohne den Bekl. Gelegenheit zu geben, hierzu Stellung zu nehmen, unter Abänderung des Berufungsurteils der Klage im Wesentlichen stattgegeben.
Die wegen Versagung der Revisionsmöglichkeit von den Bekl. eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde führte zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung an das BG.
2 Aus den Gründen:
[5]" … Durch diese Verfahrensweise hat das BG das Recht der Bekl. auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Art. 103 Abs. 1 GG räumt dem Einzelnen das Recht ein, vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort zu kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Zwar muss ein Verfahrensbeteiligter grds. alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag hierauf einstellen. Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährleistung rechtlichen Gehörs setzt aber voraus, dass ein Verfahrensbeteiligter bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt erkennen kann, auf welche Gesichtspunkte es für die Entscheidung ankommen kann. Erteilt das Gericht einen rechtlichen Hinweis in einer entscheidungserheblichen Frage, so darf es diese Frage im Urteil nicht abweichend von seiner geäußerten Rechtsauffassung entscheiden, ohne die Verfahrensbeteiligten zuvor auf die Änderung der rechtlichen Beurteilung hingewiesen und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben zu haben (vgl. BGH, Beschl. v. 4.5.2011 – XII ZR 86/10, NJW-RR 2011, 1009; BVerfG NJW 1996, 3202, juris Rn 22?f.)."
[6] b) Das angegriffene Urteil beruht auch auf diesem Gehörsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das BG seine Rechtsauffassung überdacht hätte, wenn die Bekl. Gelegenheit gehabt hätten, auf die – nun in der Nichtzulassungsbeschwerdebegründung vorgebrachten – gegen die Rechtsauffassung des BG sprechenden Gesichtspunkte hinzuweisen.“
3 Anmerkung:
Entscheidungen, die das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen entscheidungserheblichen Gesichtspunkt oder entgegen einem erteilten Gesichtspunkt begründet, stellen unzulässige Überraschungsentscheidungen dar. Konnte und musste ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht mit der Entscheidungserheblichkeit des schließlich für das Urteil tragenden Erwägung rechnen, lag ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs vor (vgl. Zöller-Geimer, ZPO, 30. Aufl., Einleitung 122).
Das begründet eine faktische Bindung des Gerichts an die von ihm erteilten Hinweise. Die Prozessbeteiligten dürfen darauf vertrauen, dass die erteilten Hinweise den Prozessstoff ausschöpfen und den Lösungsweg der Entscheidung bestimmen. Will das Gericht von dem Inhalt des einmal erteil...