1. Nach der Reform des Rechtsmittelrechts ist nach wie vor davon auszugehen, dass das Rechtsmittelgericht das erstinstanzliche Urteil gem. §§ 513 Abs. 1, 529 ZPO darauf zu überprüfen hat, ob die Schmerzensgeldbemessung überzeugt. Eine auf die Überprüfung der Ermessensausübung eingeschränkte Prüfungszuständigkeit ist nicht anzunehmen (vgl. BGH VersR 2006, 710). Eine Beschränkung der Prüfungskompetenz des BG entsprechend der des Revisionsgerichts ist deshalb abzulehnen, weil eine Bindung des BG an eine lediglich mögliche, aber nicht überzeugende Wertung der Vorinstanz nicht besteht (vgl. BGHZ 160, 83, 92; zu dem vergleichbaren Fall der Vertragsauslegung OLG Brandenburg VersR 2005, 953, 954).

2. Der Senat ist bei der Begründung des unfallbedingt eingetretenen Schadens zu Unrecht von der von dem Gutachter festgestellten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ausgegangen. Dieser Begriff umschreibt für den Bereich des Zivilrechts – anders als im Sozialrecht – keinen ersatzfähigen, einen Schaden umschreibenden Nachteil. Das folgt schon aus der Art der Bestimmung der MdE, bei der nicht etwa eine konkrete Verbindung zwischen der Beeinträchtigung und der Einsatzmöglichkeit auf dem Arbeitsmarkt hergestellt wird. Vielmehr wird der Grad der MdE durch Zugrundelegung der sozialrechtlichen Gliedertaxe bestimmt (vgl. BGH zfs 2004, 349; BGH NJW 1970, 1411; OLG Saarbrücken VersR 2000, 985; Jahnke, Der Verdienstausfall im Schadensersatzrecht, 2. Aufl., § 2 Rn 52). Der Grad der MdE umschreibt damit nicht für den Bereich des unfallbedingten Verdienstausfalls eine konkrete Einbuße und kann daher nicht für den Bereich des zivilrechtlichen Schadenersatzanspruchs herangezogen werden (vgl. BGH VersR 1978, 1170; BGH NJW 1970, 1411; BGH VersR 1956, 218; Jahnke, a.a.O. § 2 Rn 52).

Die Begründung eines zivilrechtlichen Schadens leistet der sozialrechtliche Begriff der MdE nicht, weil nicht auf die konkrete Situation des Verletzten eingegangen wird (vgl. OLG Frankfurt zfs 1999, 516).

3. Die Schadensanfälligkeit des Geschädigten aufgrund der festgestellten, bis dahin verborgen gebliebenen Vorerkrankung wäre nach der für das Sozialrecht geltenden Kausaltheorie der wesentlichen Bedingung nicht als ursächlich und eine Leistungspflicht des zuständigen Sozialversicherungsträgers begründend angesehen worden (vgl. BGH VersR 2000, 789; BGH VersR 2005, 945; Jahnke, a.a.O., § 2 Rn 29; Plagemann, VersR 1997, 9). Im zivilrechtlichen Haftungsrecht greift dieser Haftungsausschluss wegen der Gleichwertigkeit aller schadensauslösenden Bedingungen nicht (vgl. BGH zfs 1998, 92; BGH zfs 1996, 290 m. Anm. Diehl). Der Schädiger kann nicht verlangen, so gestellt zu werden, als ob er einen robusten, völlig gesunden Menschen verletzt hätte. Es ist sein Pech, einen gesundheitlich angeschlagenen Menschen mit der deshalb größeren Schadensfolge beeinträchtigt zu haben (Jahnke, a.a.O. § 2 Rn 29).

Wird anlässlich eines Unfalls die bis dahin verborgene Erkrankung offenbar, der Geschädigte deshalb in den Ruhestand versetzt, ist der daraus entstehende Schaden nicht zu ersetzen. Die Versetzung in den Ruhestand ist keine Schadensfolge; vielmehr ist der Unfall nur Auslöser der Erkenntnis des schon längst zu vollziehenden Rechtsaktes der Versetzung in den Ruhestand (vgl. BGH VersR 1968, 800). Ganz ohne Auswirkungen ist eine bis zum Unfallzeitpunkt verborgen gebliebene Vorschädigung, die nunmehr aktualisiert wird, nicht. Für die Bestimmung des Verdienstausfalls kann die Erkrankung sich schadensmindernd dann auswirken, wenn sie ohne das Unfallereignis, ein Geschehen mit überholender Kausalität, ausgelöst worden wäre (vgl. BGH zfs 1998, 93). Den Nachweis hierfür hat der Schädiger zu führen, der oft trotz der zu seinen Gunsten heranzuziehenden Vorschriften der § 252 BGB, § 287 ZPO keinen Erfolg bei diesem Beweisversuch haben wird (vgl. BGH zfs 1998, 93; OLG Hamm VersR 2002, 994; KG NZV 1992, 95). Gerade die Beweisschwierigkeiten bei der unfallbedingten Aktualisierung eines bis dahin stummen Bandscheibenvorfalls machen die zweifelhafte Möglichkeit eines solchen Nachweises deutlich.

RiOLG a.D. Heinz Diehl

zfs 3/2016, S. 139 - 142

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