AEUV Art. 267; RL 72/166/EWG Art. 3 Abs. 1
Leitsatz
Das Unionsrecht versteht unter der "Benutzung eines Fahrzeugs" im haftpflichtversicherungsrechtlichen Sinn jede Situation, in der ein Fahrzeug – unabhängig von einer Verwendung im öffentlichen Straßenverkehr – in seiner Hauptfunktion als Transportmittel verwendet wird.
(Leitsatz der Schriftleitung)
EuGH, Urt. v. 28.11.2017 – C-514/16
Sachverhalt
Das Vorabentscheidungsverfahren betrifft ein vor einem portugiesischen Gericht anhängiges Verfahren, in dem Schadensersatz begehrt wurde wegen eines Todesfalls nach einem Unfall mit einem landwirtschaftlich eingesetzten kraftfahrzeughaftpflichtversicherten Traktor. Der rechtliche Rahmen betrifft die durch die Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.9.2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (…) (ABl 2009, L 263, S. 11) aufgehobene Erste Richtlinie EWG 72/166. Angesichts des für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeitpunkts unterliegt dieses gleichwohl der Ersten Richtlinie EWG 72/166/EWG.
Art. 1 dieser Richtlinie bestimmte:
Zitat
"Im Sinne dieser Richtlinie ist zu verstehen unter:"
1. Fahrzeug: jedes maschinell angetriebene Kraftfahrzeug, welches zum Verkehr zu Lande bestimmt und nicht an Gleise gebunden ist, sowie die Anhänger, auch wenn sie nicht angekoppelt sind;
(…)“
Art. 3 Abs. 1 lautete:
Zitat
"Jeder Mitgliedstaat trifft vorbehaltlich der Anwendung des Art. 4 alle zweckdienlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist. Die Schadensdeckung sowie die Modalitäten dieser Versicherung werden im Rahmen dieser Maßnahmen bestimmt."
Art. 4 der Richtlinie sah vor:
Zitat
"Jeder Mitgliedstaat kann von Art. 3 abweichen: (…)"
b) bei gewissen Arten von Fahrzeugen oder Fahrzeugen mit besonderem Kennzeichen, die dieser Staat bestimmt und deren Kennzeichnung er den anderen Mitgliedstaaten sowie der Kommission meldet.
(…) “
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Die Eheleute R führen einen Landbesitz in S (Portugal). Die Ehefrau von Herrn P, Frau A, wurde von ihnen als Landarbeiterin in Teilzeit beschäftigt. Sie unterstand in dieser Eigenschaft den Weisungen und der Leitung der Eheleute R. Am 18.3.2006 brachte Frau A ein Pflanzenschutzmittel auf die Weinstöcke des Weinbergs der Eheleute R aus, auf einem abschüssigen und terrassenförmig angelegten Gelände. Das Pflanzenschutzmittel befand sich in einem Behälter mit Spritzvorrichtung, der an den hinteren Teil eines Traktors (im Folgenden: der fragliche Traktor) angekoppelt und aufgehängt war. Dieser stand auf einem ebenen Feldweg, sein Motor lief jedoch, um die Pumpe der Spritzvorrichtung zu betreiben. Das Gewicht dieses Traktors, die Erschütterungen durch den Motor und die Pumpe der Spritzvorrichtung sowie die Handhabung des an den Behälter angeschlossenen Zuleitungsschlauchs für das Pflanzenschutzmittel verursachten in Verbindung mit den starken Regenfällen an jenem Tag einen Erdrutsch, der den Traktor mitzog. Der Traktor stürzte über die Terrassen nach unten und überschlug sich, wobei er die vier Arbeiter traf, die damit beschäftigt waren, auf den unteren Terrassen das Pflanzenschutzmittel auf die Weinstöcke auszubringen. Frau A wurde von dem Traktor erfasst und überrollt und verstarb infolgedessen. Der fragliche Traktor war auf den Namen von Frau M, der Ehefrau von Herrn O angemeldet. Letzterer war der Verwalter der Eheleute R in dieser Eigenschaft der unmittelbare Vorgesetzte von Frau A. Frau M hatte mit CA S einen Versicherungsvertrag der Sparte "Traktoren und landwirtschaftliche Maschinen" geschlossen.
Herr P erhob Klage und begehrte, die Eheleute R, Herrn O und Frau M als Gesamtschuldner oder aber CA S, sofern diese Gesellschaft zur Deckung eines solchen Schadensfalls verpflichtet sei, zum Ersatz des immateriellen Schadens aus dem Unfall zu verurteilen.
Das BG wies darauf hin, der Gerichtshof habe sich bislang nicht zu der Frage geäußert, ob der Begriff "Benutzung eines Fahrzeugs" auch die Benutzung des Fahrzeugs als Maschine zur Erzeugung von Antriebskraft, aber ohne Bewegung des Fahrzeugs, umfasse. Es gebe indes Fahrzeuge gemischter Natur, die als Transportmittel und auch als Maschinen zur Erzeugung von Antriebskraft benutzt werden könnten und die in dieser Eigenschaft Dritten nicht nur, wenn sie sich im Verkehr bewegten, sondern auch bei ihrer Benutzung im Stillstand als Maschinen zur Erzeugung von Antriebskraft Schäden zufügen könnten. Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob es angesichts des Ziels des Schutzes der Geschädigten, das die Unionsregelung über die Pflichtversicherung verfolgt, wie auch der Notwendigkeit, eine einheitliche Anwendung des Unionsrechts sicherzustellen, gerechtfertigt ist, vom Anwendungsbereich des Begriffs "Benutzung eines Fahrzeugs" die Situation auszuschließen, in der ein im Stillstand befindliches Fahrzeug in seiner gewöhnlichen Funktion als Maschine zur Erzeugung von Antriebskraft, die zur Durchführung einer anderen Arbeit...