GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 411 § 412 § 485 § 492 § 544
Leitsatz
1. Legt eine Partei in einem selbstständigen Beweisverfahren oder einem Rechtsstreit ein Privatgutachten vor, das gegenüber dem gerichtlich eingeholten Gutachten zu abweichenden Feststellungen gelangt, ist das Gericht verpflichtet, sich hiermit auseinander zu setzen und auf die Widersprüche einzugehen.
2. Gibt der Richter nach dieser Aufklärung einem der Gutachten den Vorzug, hat er die Gründe hierfür offenzulegen Leerformeln wie die Bemerkung, der gerichtlich bestellte Gutachter habe die Zweifelsfragen geklärt, ohne dass sich dies aus dem Protokoll oder den Entscheidungsgründen ergibt, dokumentieren keine ausreichende Auseinandersetzung.
3. Gelingt die Ausräumung der Widersprüche zwischen dem gerichtlich eingeholten Gutachten und dem Privatgutachten nicht, ist ein weiteres Gutachten einzuholen.
4. Werden die Feststellungen des Privatgutachters in den Entscheidungsgründen des Urteils nicht berücksichtigt, liegt hierin eine Verletzung rechtlichen Gehörs.
5. Ob Vorbringen, das auf ein Privatgutachten gestützt wird unter den Voraussetzungen der §§ 296 Abs. 1, 411 Abs. 4, 493 ZPO zurückgewiesen werden kann, bleibt offen.
(Leitsätze der Schriftleitung)
BGH, Beschl. v. 17.5.2017 – VII ZR 36/15
Sachverhalt
In einem selbstständigen Beweisverfahren holte das Gericht ein Sachverständigengutachten ein. Der Bekl. legte ein Privatgutachten vor, das sich kritisch mit dem gerichtlich veranlassten Gutachten auseinandersetzte. In der gerichtlichen Entscheidung ging das Gericht auf die einzelnen Beanstandungen des Privatgutachtens nicht ein, sondern erklärte diese für von dem gerichtlich bestellten Gutachter bereits beantwortet. Der BGH ging unter Darstellung der zutreffenden Beweiswürdigung von deren Mangelhaftigkeit in dem angefochtenen Berufungsurteil aus.
Er hob das angefochtene Urteil auf und wies den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurück.
2 Aus den Gründen:
[7] II. … Das BerGer. hat den Anspruch der Bekl. auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG entscheidungserheblich verletzt.
[8] 1. Das BerGer. hält die Ausführungen des LG grundsätzlich für zutreffend. Zwar seien Einwendungen gegen ein im selbstständigen Beweisverfahren erstelltes Gutachten im Hauptsachverfahren zuzulassen, wenn sich ergebe, dass das Gutachten nicht überzeugend, lückenhaft oder widersprüchlich sei. Das Gutachten der Sachverständigen sei jedoch überzeugend. Die Einwände der Bekl., die Risse seien auf Temperaturschwankungen, Zugluft oder punktuelle Belastung während der Austrocknungsphase zurückzuführen, habe die Sachverständige H. ausreichend beantwortet.
[9] Einwände, die die Bekl. unter Vorlage des zweiten Gutachtens des Sachverständigen B vom 9.12.2012 und des Sachverständigen R. vom 9.5.2014 erhebe, seien nicht zu berücksichtigen, da sie nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums gem. § 411 Abs. 4 S. 1 ZPO vorgebracht worden seien, sondern erst lange nach Ablauf der Klageerwiderungsfrist.
[10] 2. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das BerGer. sich mit dem Vorbringen der Bekl. gegen das Beweisergebnis nach Einholung des Sachverständigengutachters H. nicht ausreichend auseinandergesetzt hat und so entscheidungserhebliches Vorbringen und Beweise entgegen Art. 103 Abs. 1 GG unberücksichtigt gelassen hat.
[11] a) Der Tatrichter hat Einwendungen einer Partei gegen das Gutachten eines gerichtlichen Sachverständigen zu berücksichtigen. Er ist verpflichtet, sich mit von der Partei vorgelegten Privatgutachten auseinanderzusetzen und auf die weitere Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken, wenn sich aus dem Privatgutachten ein Widerspruch zum Gerichtsgutachten ergeben kann. Unklarheiten, Zweifeln oder Widersprüchen hat er von Amts wegen nachzugehen. Wenn der gerichtlich bestellte Sachverständige im Rahmen seiner Anhörung die sich aus einem Privatgutachten ergebenden Einwendungen nicht auszuräumen vermag, muss der Tatrichter im Rahmen seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung ein weiteres Gutachten einholen (vgl. BGH, Beschl. v. 21.3.2013 – V ZR 204/12, BeckRS 2013, 07392 Rn 6; NJW-RR 2011, 609 Rn 5). Das Gericht ist gehalten, sich mit den Streitpunkten zwischen dem gerichtlichen Sachverständigengutachten und dem Privatgutachten sorgfältig und kritisch auseinanderzusetzen und die Streitpunkte zu würdigen. Insbesondere hat es zu begründen, warum es einem von ihnen den Vorzug gibt (vgl. BGH, BauR 2010, 931 = BeckRS 2010, 04928 Rn 9; NJW-RR 2008, 767 Rn 18 = DS 2009, 194 Ls.).
[12] Diese Anforderungen an die Beweisaufnahme und deren Würdigung gelten unabhängig davon, ob das gerichtliche Sachverständigengutachten durch den Tatrichter oder im Rahmen eines selbstständigen Beweisverfahrens nach den §§ 485 ff. ZPO erholt worden ist. Ein in einem selbstständigen Beweisverfahren eingeholtes Sachverständigengutachten ist gem. § 493 ZPO wie ein vor dem ProzessGer. erhobener Beweis zu behandeln. Es obliegt tatrichterlicher Würdigung, ob die Beweisaufnahme ein überzeugendes Beweisergebnis gebracht hat. Die Gleichbehandlung eines n...