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Die Anwaltschaft diskutiert seit mehr als 10 Jahren die Frage, ob und inwieweit die Vertretung mehrerer Unfallbeteiligter zulässig ist. Der Auffassung, dass in allen Fällen Interessenkollision vorliegt, steht die Meinung gegenüber, dass bei allseitigem Einverständnis mehrere Unfallbeteiligte durchaus von demselben Rechtsanwalt vertreten werden dürfen. Die Diskussion gewinnt Aktualität durch zwei höchstrichterliche Entscheidungen, in denen es als zulässig angesehen wird, ein Mandat auf einen bestimmten Anspruchsgegner und auf eine bestimmte Anspruchsgrundlage zu beschränken. Die Grundsätze dieser Entscheidungen, die zum Familienrecht ergangen sind, lassen sich zwanglos auf die Problematik bei der Vertretung mehrerer Unfallbeteiligter übertragen.
A. Einleitung
Neben der Unabhängigkeit und der Verschwiegenheit der Anwaltschaft gilt als dritter Pfeiler des anwaltlichen Berufsrechts das Verbot, widerstreitende Interessen wahrzunehmen. Dieses Verbot wird zurückgeführt auf das römische Recht, welches praevaricatio propria untersagte, man spricht daher vom Praevaricationsverbot. Dieses Verbot betrifft den Kernbereich des anwaltlichen Berufsbildes. Bei einem Verstoß kommen folgende Sanktionen in Betracht:
Das zwischenzeitlich aufgelöste BayObLG hat noch mit Urteil vom 29.9.1994 eine Strafbarkeit gem. § 356 StGB bejaht und einen Rechtsanwalt zu einer Geldstrafe verurteilt, der nach einem Verkehrsunfall den verantwortlichen Fahrer im Strafverfahren und anschließend dessen Beifahrerin bei der Geltendmachung ihrer Ansprüche gegen den Haftpflichtversicherer des früheren Mandanten vertreten hatte.
Die gesetzlichen Regelungen in § 356 StGB, den berufsrechtlichen Vorschriften der §§ 43a Abs. 4 und 45 BRAO sowie die Satzungsnorm in § 3 BRAO sind "intransparent, inkohärent, lückenhaft und missverständlich". Die zu den vorgenannten Vorschriften ergangenen Entscheidungen tragen nicht zur Rechtssicherheit bei, da der Anwaltssenat beim BGH und verschiedene Zivilsenate sowie Strafsenate zuständig sind und sich nicht durch eine einheitliche Rechtsprechung auszeichnen. "
B. Überblick
Der objektive Tatbestand von § 356 StGB und von § 43a Abs. 4 BRAO ist deckungsgleich. § 43a Abs. 4 BRAO geht über die Regelung von § 356 StGB hinaus, weil auch eine fahrlässige Pflichtverletzung eine berufsrechtliche Ahndung gem. § 113 Abs. 1 BRAO zulässt. Zwei aktuelle Entscheidungen des BGH haben die Diskussion über das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen erneut entfacht und die bisherige Auffassung zugunsten der Anwaltschaft und der von ihnen vertretenen Mandanten gelockert.
I. Das Urteil des BGH vom 23.4.2012
Der Anwaltssenat führt aus, dass unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls zu überprüfen ist, ob eine Interessenkollision vorliegt. Im entschiedenen Fall hatte eine Kollegin im Scheidungsverfahren und im Verfahren über Zugewinnausgleich den Ehemann vertreten und mit dessen Einverständnis Unterhaltsansprüche des volljährigen Sohnes gegen die Ehefrau geltend gemacht. Die zuständige Rechtsanwaltskammer hatte einen Verstoß gegen § 43a Abs. 4 BRAO und § 3 Abs. 1 BORA angenommen, da neben dem geltend gemachten Unterhaltsanspruch gegen die Mutter des volljährigen Sohnes auch Unterhaltsansprüche gegen den von der Kollegin vertretenen Ehemann und Vater des Klägers bestünden. Diese Vertretung widerstreitender Interessen könne auch nicht dadurch aufgehoben werden, dass der Mandant mit diesem Vorgehen sein Einverständnis erklärt habe.
Der BGH führt aus, dass es sich bei der Vertretung im Zugewinnverfahren und bei der Geltendmachung des Unterhaltsanspruchs eines volljährigen Kindes gegen seine Eltern um "dieselbe Rechtssache" handele. Da der volljährige Sohn sowohl Unterhaltsansprüche gegenüber seiner Mutter als auch gegenüber dem von der Kollegin vertretenen Vater habe, sei auch die Unterhaltspflicht des Vaters berührt. Ob tatsächlich widerstreitende Interessen vertreten würden, könne nicht ohne Blick auf die konkreten Umstände des Falls beurteilt werden. Wenn der volljährige Sohn in Kenntnis aller Umstände gleichwohl dieselbe Rechtsanwältin beauftrage, die den Vater im Zugewinnausgleichsverfahren vertrat, fehle es bei der gebotenen objektiven Betrachtungsweise an einem Interessengegensatz. Das Anknüpfen an einen möglichen, tatsächlich aber nicht bestehenden (latenten) Interessenkonflikt sei verfassungsrechtlich unzulässig. Aus der Entscheidung ergibt sich, dass die Beschränkung eines Mandats auf einen bestimmten Anspruchsgegner zulässig ist, auch wenn die Durchsetzung dies...