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Der Begriff des "Führerscheintourismus" umfasst im Regelfall die Konstellation, dass ein Fahrerlaubnisinhaber in seinem Aufenthaltsstaat die Fahrerlaubnis verloren hat und in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) eine Fahrerlaubnis erwirbt. Der Betroffene berühmt sich dann in seinem Aufenthaltsstaat, in dem er seinen ordentlichen Wohnsitz hat, der Fahrberechtigung aus dieser Erlaubnis und pocht auf die Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung von Fahrerlaubnissen in der EU.

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Da die Europäischen Führerschein-Richtlinien den Mitgliedstaaten nur Mindestvoraussetzungen für die Erteilung von Fahrerlaubnissen vorgeben, weichen die Erteilungsvoraussetzungen von Land zu Land ab. Zudem gibt es keinen systematischen Informationsaustausch der Führerscheinbehörden innerhalb der EU. Das weckt das Interesse, von u.U. erleichterten Erteilungsbedingungen in einem anderen Mitgliedstaat zu profitieren und dann z.B. in Deutschland – dem Wohnsitzstaat – von der Anerkennungspflicht innerhalb der EU zu profitieren.[2]

[2] In der europarechtlichen Diktion – sowohl hinsichtlich der Rechtsgrundlagen wie der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs – wird fast durchgängig der Begriff des "Führerscheins" verwendet. Dabei verschwimmt die Unterscheidung zwischen "Fahrerlaubnis" (der Berechtigung zum Führen von Kraftfahrzeugen) und Führerschein (die Berechtigung verkörperndes Dokument) im deutschen Recht. Für eine klare Darstellung werden die Begriffe "Fahrerlaubnis" und "Führerschein" nach dem deutschen Verständnis verwendet.

A. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur gegenseitigen Anerkennung

I. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung

Als tragender Grundsatz ist sowohl in Art. 1 Abs. 2 der Zweiten Führerschein-Richtlinie[3] wie in Art. 2 Abs. 1 der Dritten Führerschein-Richtlinie[4] die gegenseitige Anerkennung der in einem Mitgliedstaat der EU erteilten Fahrerlaubnisse verankert. Der EuGH betont diesen fundamentalen Grundsatz, indem er die Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung als klare und unbedingte Verpflichtung benennt, die ohne jede Formalität oder weitere Voraussetzung zu erfolgen hat.[5] Ausnahmen hiervon sind eng auszulegen.[6] Die Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung ist im deutschen Recht in § 28 Abs. 1 S. 1 der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) festgeschrieben.

[3] Richtlinie 91/439/EWG v. 29.7.1991, ABl I. 237/1 v. 24.8.1991.
[4] Richtlinie 2006/126/EG v. 20.12.2006, ABl I. 403/18.
[5] EuGH, Beschl. v. 6.4.2006 – C-227/05, Rs. "Halbritter", NJW 2006, 2173 = DAR 2006, 375.
[6] EuGH, Beschl. v. 6.4.2006 – C-227/05, Rs. "Halbritter", NJW 2006, 2173 = DAR 2006, 375 für die Zweite Führerschein-Richtlinie; EuGH, Urt. v. 26.4.2012 – C-419/10, Rs. "Hofmann", NJW 2012, 1935 = DAR 2012, 319 für die Dritte Führerschein-Richtlinie.

II. Wohnsitzprinzip

In Art. 7 Abs. 1b der Zweiten Führerschein-Richtlinie wie auch inhaltlich gleichlautend in Art. 7 Abs. 1e der Dritten Führerschein-Richtlinie ist festgelegt, dass Voraussetzung für die Erteilung einer Fahrerlaubnis durch einen Mitgliedstaat der ordentliche Wohnsitz des Bewerbers in diesem Staat ist. Der ordentliche Wohnsitz in diesem Sinn ist in Art. 9 Abs. 1 der Zweiten Führerschein-Richtlinie wie gleichlautend in Art. 12 der Dritten Führerschein-Richtlinie dahingehend bestimmt, dass der Fahrerlaubnisinhaber an mindestens 185 Tagen im Kalenderjahr dort wohnt, d.h. den Schwerpunkt seiner persönlichen (sowie u.U. auch seiner beruflichen) Bindungen dort hat bzw. dorthin verlegt.[7] Daher kann es nur einen ordentlichen Wohnsitz geben.

Der EuGH hat in mehreren Entscheidungen betont, dass ein Verstoß gegen das Wohnsitzprinzip zur Ungültigkeit einer von einem Mitgliedsstaat erteilen Fahrerlaubnis mit Wirkung für die Vergangenheit führt.[8] Das gilt auch dann, wenn zuvor keine führerscheinrechtliche Maßnahme getroffen worden ist, die zu einer Einschränkung, Aussetzung, Aufhebung oder einem Entzug der Fahrerlaubnis in einem anderen Mitgliedstaat[9] geführt hat. Denn ohne die Einhaltung des Wohnsitzprinzips sei es dem ausstellenden Staat nicht möglich, die Voraussetzungen für die Erteilung einer Fahrerlaubnis zu prüfen. Diese Grundsätze gelten auch bei Anwendung der Dritten Führerschein-Richtlinie.[10] Auch wenn das Wohnsitzprinzip noch nicht in das nationale Recht des Ausstellerstaats umgesetzt war, ist es für die Gültigkeit einer Fahrerlaubnis in einem anderen Mitgliedstaat zu beachten.[11]

Dabei wird dieses Prinzip sehr streng angewendet, da sich die Fehlerhaftigkeit bei einer Erweiterung oder einem Umtausch fortsetzt: Wurde zunächst eine Fahrerlaubnis der Klasse B in einem Mitgliedstaat der EU unter Wohnsitzverstoß erteilt und später dort eine solche der Klasse C ohne Wohnsitzverstoß, muss auch die Fahrerlaubnis der Klasse C nicht anerkannt werden, da die Klasse C auf der Klasse B aufbaut.[12] Wird eine unter Verstoß gegen das Wohnsitzprinzip in einem EU-Mitgliedstaat erteilte Fahrerlaubnis in einem anderen EU-Mitgliedstaat in eine gleichwertige Fahrerlaubnis umgetauscht, so führt der ursprüngliche Wohnsitzverstoß auch zur Ungültigkeit der aktuellen weiteren Fahrerlaubnis.[13]

Ein Verstoß gegen das Wohnsitzprinzip d...

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