OWiG § 74 Abs. 2
Leitsatz
1. Aufgrund seiner Fürsorge- und Aufklärungspflicht muss der Tatrichter vor Erlass eines Verwerfungsurteils grds. bei der Geschäftsstelle nachfragen, ob eine Mitteilung über die Verhinderung des Betr. vorliegt.
2. Unter den Bedingungen eines üblicherweise dynamisch und komplex verlaufenden Sitzungstags gebietet es die Fürsorge- und Aufklärungspflicht jedoch nicht, bei allen Einlaufstellen für digitale und physikalische Post nachzufragen.
KG, Beschl. v. 20.8.2014 – 3 Ws (B) 388/14 – 122 Ss 113/14
Sachverhalt
Gegen den Betr. wurde ein Bußgeldbescheid über 280 EUR verhängt. Nachdem das AG Termin zur Hauptverhandlung anberaumt hatte, hat der Verteidiger am Vortag beantragt, den Termin aufzuheben. Zur Begründung hat er mitgeteilt, der Betr. sehe sich aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, den Termin wahrzunehmen; er könne weder stehen noch längere Zeit sitzen. Dieses Schreiben hat der Verteidiger per Fax übersandt, allerdings nicht an die auf der Ladung mitgeteilte Nummer der Geschäftsstelle, sondern an die Nummer der Poststelle des AG. Dort ist es am Vortag um 17.31 Uhr eingegangen, bei der Geschäftsstelle erst am Tag nach der Hauptverhandlung gestempelt worden. Im Hauptverhandlungstermin erschien niemand und der Einspruch wurde mit der Begründung verworfen, der Betr. sei trotz ordnungsgemäßer Ladung ohne genügende Entschuldigung im Hauptverhandlungstermin ausgeblieben. Gegen das am 28.2.2014 zugestellte Urteil hat der Betr. am 6.3.2014 Rechtsbeschwerde eingelegt, die durch seinen Verteidiger mit am 7.4.2014 eingegangenem Schriftsatz begründet worden ist. Das AG hat die Rechtsbeschwerde als unzulässig verworfen, weil das Rechtsmittel nicht fristgerecht begründet worden sei. Der Betr. wendet sich gegen die Verwerfung seiner Rechtsbeschwerde mit dem Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Der Antrag hat Erfolg, nicht aber die Rechtsbeschwerde selbst.
2 Aus den Gründen:
"1. Der nach § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 346 Abs. 2 S. 1 StPO statthafte und im Weiteren zulässige Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist begründet. Die Beschwerdeanträge sind frist- und formgerecht gestellt worden. Da das Urteil in Abwesenheit des – auch nicht durch einen schriftlich bevollmächtigten Verteidiger (§ 73 Abs. 3 OWiG) vertretenen – Betr. verkündet worden ist, begann die Wochenfrist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde mit der Zustellung des Urteils (§ 79 Abs. 4 OWiG) am 28.2.2014. Sie endete mit dem Ablauf des 7.3.2014. Die Monatsfrist zur Anbringung der Beschwerdeanträge und ihrer Begründung (§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 345 Abs. 1 S. 1 StPO) schloss sich hieran an, so dass die Rechtsmittelbegründung am 7.4.2014 rechtzeitig bei dem AG eingegangen ist."
2. Die nach § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde bleibt erfolglos.
a) Allerdings ist die Verfahrensrüge, das AG habe die durch ein ärztliches Attest belegte Verhandlungsunfähigkeit übergangen, zulässig erhoben. Die Verfahrensrüge erfüllt die Anforderungen des § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO. Sie teilt mit, wann und mit welchem Inhalt der auf die Aufhebung des Hauptverhandlungstermins antragende Schriftsatz der Verteidigung vor Verhandlungsbeginn beim AG eingegangen ist. Auch erklärt sie sich dazu, dass der Schriftsatz nicht an die Geschäftsstelle der Abteilung gerichtet war, deren Nummer der ebenfalls mitgeteilten Umladung (Rechtsmittelschrift S. 2) zu entnehmen ist, sondern an die Poststelle des AG. Schließlich ist der Verfahrensrüge zu entnehmen, dass der Aufhebungsantrag erst am 13.2.2014 bei der Geschäftsstelle einging. Diese Angaben versetzen den Senat in die Lage zu überprüfen, ob das Gericht ggf. entscheidungserhebliche Tatsachen, nämlich den Terminsaufhebungsantrag und das Entschuldigungsvorbringen, übergangen hat, obwohl es diese hätte zur Kenntnis nehmen können und müssen.
b) Die Verfahrensrüge dringt jedoch nicht durch. Die Rechtsbeschwerde beanstandet zu Unrecht, dass die Tatrichterin einen rechtzeitig eingegangenen Antrag auf Terminsverlegung unbeachtet gelassen und rechtliches Gehör verletzt habe. Vielmehr hat das AG den Einspruch nach § 74 Abs. 2 OWiG rechtsfehlerfrei verworfen.
aa) Das Gericht darf den Einspruch nach § 74 Abs. 2 OWiG nur verwerfen, wenn der Betr. ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben ist. Entscheidend ist nicht, ob sich der Betr. entschuldigt hat, sondern ob er entschuldigt ist. Daher muss der Tatrichter von Amts wegen prüfen, ob Umstände ersichtlich sind, die das Ausbleiben des Betr. genügend entschuldigen (vgl. BGHSt 17, 391 [§ 329 StPO]). Ergeben sich konkrete Hinweise auf einen Entschuldigungsgrund, so muss er ihnen nachgehen. Da erfahrungsgemäß die Geschäftsstelle eines Gerichts auch noch kurz vor einem Termin davon verständigt wird, dass der Betr. verhindert sei, muss sich der Tatrichter, wenn überraschend weder der Betr. noch sein Verteidiger zum Termin erschienen sind, aufgrund seiner Fürsorge- und Aufklärungspflicht vor Erlass eines Verwerfungsurteils bei der Geschäftsstelle vergewis...