StVG § 17; StVO § 9 Abs. 5; ZPO § 520 Abs. 3 Nr. 2 und 3
Leitsatz
1. Für die Zulässigkeit der Berufung ist es ohne Bedeutung, ob die Ausführungen des Berufungsführers in sich schlüssig oder rechtlich haltbar sind.
2. Ergibt sich die Entscheidungserheblichkeit einer gerügten Rechtsverletzung oder einer beanstandeten Tatsachenfeststellung unmittelbar aus dem angefochtenen Urteil i.V.m. den Ausführungen in der Berufungsbegründung, bedarf sie keiner gesonderten Darlegung in der Berufungsbegründung.
BGH, Beschl. v. 10.3.2015 – VI ZB 28/14
Sachverhalt
In einem Verkehrsunfallprozess gab das erstinstanzliche Gericht der Klage auf der Grundlage einer Haftungsquote von 60 % statt, und wies die Klage im Übrigen ab. Das BG verwarf die Berufung als unzulässig und ging davon aus, dass die Berufungsbegründung den Anforderungen des § 520 Abs. 3 S. 2 ZPO nicht genüge. Sie enthalte lediglich ausreichende Angriffe hinsichtlich der in dem angefochtenen Urteil vorgenommenen Kürzung der Kostenpauschale, der Mietwagenkosten und der Anwaltsgebühren, woraus sich eine Beschwer von lediglich 333,65 EUR ergebe, so dass die Berufungssumme nicht erreicht sei. Im Übrigen lasse die Berufungsbegründung nicht erkennen, aus welchen tatsächlichen oder rechtlichen Gründen das angefochtene Urteil unrichtig sein solle.
Die Rechtsbeschwerde des Kl. hatte Erfolg und führte zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung an das BG. Der BGH stellte fest, dass der Kl. in seiner Berufungsbegründung i.V.m. den Ausführungen in dem angefochtenen Urteil hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht habe, dass und aus welchen Gründen er die Abweisung ihrer Klage für rechtsfehlerhaft halte und eine erneute ihr günstigere Beurteilung durch das BG für geboten erachte.
2 Aus den Gründen:
[11] "… aa) Die Kl. hat in der Berufungsbegründung klar zu erkennen gegeben, dass sie die – für die Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge erhebliche – Würdigung des LG angreifen möchte, sie habe einen Verstoß des Bekl. zu 1) gegen die Anzeigepflicht beim Abbiegen nicht bewiesen. Mit dem Vorbringen, das LG habe die Zeugenaussage ihres Ehemannes als “leicht verarmt’ und damit nicht überzeugend gewürdigt, ohne sich einen persönlichen Eindruck verschafft zu haben (§ 355 ZPO), hat die Kl. einen Verfahrensfehler gerügt, der dem LG bei der Feststellung des Sachverhalts unterlaufen sein soll. Damit hat sie einen konkreten Anhaltspunkt aufgezeigt, der aus ihrer Sicht Zweifel an der Richtigkeit der Tatsachenfeststellungen begründet (vgl. Senat NJW-RR 2014, 760 = VersR 2014, 895 Rn 9; BGHZ 158, 269, 272 = NJW 2004, 1876)."
[12] bb) Die Kl. hat darüber hinaus geltend gemacht, das LG habe rechtsfehlerhaft einen Verstoß des Bekl. zu 1) gegen die erhöhte Sorgfaltspflicht des § 9 Abs. 5 StVO verneint. Denn bei dem Parkplatz, auf den der Bekl. zu 1) abgebogen sei, handle es sich um ein Grundstück im Sinne dieser Bestimmung. Da sich der Unfall beim Abbiegen in das Grundstück ereignet habe, spreche der Beweis des ersten Anscheins für eine schuldhafte Sorgfaltspflichtverletzung des Bekl. zu 1). Diesen Beweis habe der Bekl. nicht widerlegt. Er habe bereits nicht schlüssig dargetan, den Blinker nach links betätigt zu haben.
[13] cc) Soweit das BG in der Berufungsbegründung eine Darlegung der Entscheidungserheblichkeit der behaupteten Rechtsverstöße vermisst, hat es zunächst nicht berücksichtigt, dass sich diese unmittelbar aus dem angefochtenen Urteil i.V.m. den Ausführungen in der Berufungsbegründung ergibt und deshalb keiner gesonderten Darlegung bedarf (vgl. BGH NJW 2012, 3581 Rn 12). Es liegt auf der Hand, dass sich rechtsfehlerhaft nicht berücksichtigte Verursachungsbeiträge eines Fahrzeugführers auf das Ergebnis der Haftungsabwägung gem. § 17 Abs. 1 und 2 StVG auswirken.
[14] Abgesehen davon hat die Kl. die Erheblichkeit der gerügten Rechtsverletzungen dargetan. Sie hat geltend gemacht, dass aufgrund des nicht widerlegten Anscheinsbeweises von der alleinigen Haftung der Bekl. auszugehen sei. Jedenfalls sei die vom LG rechtsfehlerhaft verneinte Missachtung der Anzeigepflicht beim Abbiegen und der besonderen Sorgfaltsanforderungen des § 9 Abs. 5 StVO durch den Bekl. zu 1) in die Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge einzustellen, was zu keinem anderen Ergebnis als der alleinigen Haftung der Bekl. führen könne.
[15] Soweit das BG Ausführungen der Kl. dazu vermisst, warum die vom LG angenommene Sorgfaltspflichtverletzung ihres Ehemannes – Überholen bei unklarer Verkehrslage – in der Abwägung hinter den Verstößen des Bekl. zu 1) gegen § 9 Abs. 1 S. 1, Abs. 1 S. 4 und Abs. 5 StVO zurücktrete, hat es das Vorbringen in der Berufungsbegründung übersehen, wonach den Bekl. zu 1) – anders als den Ehemann der Kl. – eine “besondere Sorgfaltspflicht’ getroffen habe. Hiermit ist ersichtlich die erhöhte Sorgfaltspflicht des § 9 Abs. 5 StVO gemeint, wonach sich der Fahrzeugführer so verhalten muss, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Abgesehen davon bedurfte es derartiger Ausführungen nic...