BGB § 253
Leitsatz
Bei der Bemessung einer billigen Entschädigung in Geld nach § 253 Abs. 2 BGB können alle Umstände des Falls berücksichtigt werden. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers und des Geschädigten können dabei nicht von vornherein ausgeschlossen werden.
Vereinigte Große Senate, Beschl. v. 16.9.2016 – VGS 1/16
Sachverhalt
Der Generalbundesanwalt trat dem Vorlagebeschluss des 2. Strafsenats entgegen. Bei der Bemessung der billigen Entschädigung in Geld könnten die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers oder des Geschädigten zu berücksichtigen sein. Soweit sich keine Anhaltspunkte für Besonderheiten ergäben, bedürfe es aber hierzu weder ausdrücklicher Feststellungen im Urteil noch müsse der Einfluss der wirtschaftlichen Verhältnisse auf die Bemessung ausdrücklich erörtert werden.
Der Vereinigte Große Senat verneinte beide Vorlagefragen.
2 Aus den Gründen:
[29] "… II. Die erste Vorlagefrage ist – der Entscheidung des Großen Senats für Zivilsachen v. 6.7.1955 (GSZ 1/55, BGHZ 18, 149) folgend – dahin zu beantworten, dass bei der Bemessung einer billigen Entschädigung in Geld nach § 253 Abs. 2 BGB (§ 847 BGB a.F.) alle Umstände des Falls berücksichtigt werden können. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers und des Geschädigten können dabei nicht von vornherein ausgeschlossen werden."
[30] 1. Ist wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten, kann auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden (§ 253 Abs. 2 BGB). Der unbestimmte Rechtsbegriff der “billigen Entschädigung' meint sowohl nach dem Wortlaut als auch nach systematischer, historischer und teleologischer Auslegung eine angemessene Entschädigung, bei deren Bemessung der Tatrichter alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen darf.
[31] a) Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnen die Worte “billig' oder “Billigkeit' das Angemessene, Passende, Rechte (so schon Rümelin, Die Billigkeit im Recht, 1921, S. 2 f.). In der Rechtslehre hat das Wort Billigkeit indes einen spezifischen Sinngehalt. Auch der Gesetzgeber des Bürgerlichen Gesetzbuchs ging davon aus, dass der Ausdruck “billig' eine feste technische Bezeichnung sei (BGH, GSZ, Beschl. v. 6.7.1955 – GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 153 m.w.N.).
[32] Billigkeit bezeichnet danach die Lösung für das Problem, dass allgemeine Gesetze, gerade weil sie eine allgemeine Regelung treffen, dem Einzelfall nicht ohne Weiteres gerecht werden können. Funktion der Billigkeit ist die Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen den abstrakt-generellen Regelungen des Gesetzes und den Besonderheiten des Einzelfalls, mithin die Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit (Rümelin, a.a.O. S. 43 ff.; Frey, in: Festschrift Röhl, 2003, S. 334 f.; Calliess, Zeitschrift für Rechtssoziologie 26 (2005), 35, 42 ff.; Lochstampfer, Die Billigkeit im Schadensrecht aus erfahrungswissenschaftlicher Sicht, 2005, S. 98; Rybarz, Billigkeitserwägungen im Kontext des Europäischen Privatrechts, 2011, S. 10 f.; Vetter, in: Festschrift Schapp, 2010, S. 473, 479 ff.).
[33] Billigkeit sperrt sich gegen jede Generalisierung (Calliess, a.a.O., 48). Die Vorstellung, bestimmte Umstände des Einzelfalls könnten von vornherein aus abstrakt-generellen Erwägungen heraus der Berücksichtigung durch den Tatrichter entzogen werden, steht daher in einem unauflösbaren Widerspruch zu der Funktion des Billigkeitsgedankens. Vor diesem Hintergrund ist eine billige Entschädigung nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut eine solche, bei der der Tatrichter im Grundsatz alle Umstände des Einzelfalls und damit auch die Verhältnisse der Beteiligten berücksichtigen darf (vgl. auch Knöpfel, AcP 155 (1956), 135, 140, 157). Davon zu unterscheiden sind die Fragen, welchen Umständen der Tatrichter welches Gewicht beimessen darf, inwieweit seine Entscheidung revisionsrechtlich überprüfbar und wie verfassungsrechtlichen Grundsätzen Geltung zu verschaffen ist (dazu unten unter c und d sowie 2.).
[34] b) Auch die systematische Auslegung führt zu dem Ergebnis, dass der Tatrichter alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen darf. Dabei ist die Vorschrift des § 253 Abs. 2 BGB zum einen im Zusammenhang mit den Regelungen zu sehen, die auf dem Billigkeitsgedanken beruhen (dazu unter aa). Zum anderen ist sie in den Gesamtzusammenhang des Schadensrechts zu stellen (dazu unter bb).
[35] aa) Der Gedanke der Billigkeit durchzieht die gesamte Rechtsordnung (vgl. Rümelin, a.a.O. S. 34 und – nur beispielhaft – §§ 284, 1246 Abs. 1, § 1361a Abs. 1 S. 1, Abs. 2, § 1381 BGB, §§ 91a, 1051 Abs. 3 ZPO, § 163 AO). Im Bürgerlichen Gesetzbuch wird an verschiedensten Stellen das Ausmaß einer Leistung nach billigem Ermessen bestimmt (z.B. §§ 315, 317, 660 Abs. 1, § 920 Abs. 2, § 971 Abs. 1 S. 3, § 1576 S. 1, § 1577 Abs. 2 S. 2, § 1578b Abs. 1 und 2 BGB; s. auch – außerhalb des BGB – § 87 Abs. 2 S. 1 AktG). Der Funktion des Billigkeitsgedankens folgend will das Gesetz in diesen Fällen alle in Betracht ...