RVG § 48 Abs. 1; VV RVG Vorbem. 7 Abs. 2
Leitsatz
Eine Geschäftsreise liegt dann vor, wenn das Prozessgericht entweder außerhalb der Kanzleigemeinde oder außerhalb der Wohngemeinde liegt; abzustellen ist auf den Ort der tatsächlichen Abreise. Eine Auslegung dahingehend, dass das Prozessgericht sowohl außerhalb der Kanzleigemeinde als auch außerhalb der Wohngemeinde liegen muss, ist nicht zulässig.
OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.2.2012 – I-10 W 97/11
Sachverhalt
Für die Wahrnehmung des Verhandlungstermins vor dem AG reiste der einer Partei im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnete Rechtsanwalt von seiner außerhalb dieser Gemeinde liegenden Kanzlei an. Hierfür machte er gegenüber der Landeskasse Reisekosten i.H.v. 61,88 EUR geltend, die der Urkundsbeamte des AG festgesetzt hat. Auf die Erinnerung des Vertreters der Landeskasse hat das LG die Reisekosten abgesetzt. Die zugelassene weitere Beschwerde des Rechtsanwalts führte zur Wiederherstellung der Entscheidung des Urkundsbeamten.
2 Aus den Gründen:
"… Grds. kann ein Anwalt auch im Rahmen der Prozesskostenhilfe diejenigen Mehrkosten erstattet verlangen, die dadurch entstehen, dass er seinen Wohnsitz oder seine Kanzlei nicht an dem Ort hat, an dem sich das Prozessgericht oder eine auswärtige Abteilung dieses Gerichts befindet; dies folgt aus dem Wegfall von § 126 Abs. 1 S. 2 BRAGO. Vorliegend sind die angegebenen Reisekosten auch für eine Geschäftsreise i.S.d. RVG VV-Vorbem. 7 Abs. 2 entstanden. Eine solche liegt nach dem Gesetz vor, wenn das Reiseziel außerhalb der Gemeinde liegt, in der sich die Kanzlei oder die Wohnung des Rechtsanwalts befindet."
1. Die Beteiligten des vorliegenden Beschwerdeverfahrens haben insoweit unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich des Begriffs “oder'. Der ASt. versteht dies alternativ, so dass eine Geschäftsreise dann vorliegt, wenn das Prozessgericht entweder außerhalb der Kanzleigemeinde oder außerhalb der Wohngemeinde liegt. Die Landeskasse und ihm folgend das Beschwerdegericht verstehen dies kumulativ und gelangen zu dem Ergebnis, dass eine Geschäftsreise nur dann vorliegt, wenn das Prozessgericht sowohl außerhalb der Kanzleigemeinde als auch außerhalb der Wohngemeinde liegt.
a. Die Grundsätze der deutschen Grammatik sprechen für die vom ASt. vertretene Ansicht. Danach drückt “oder' aus, dass es zwei (oder mehr) Möglichkeiten, Alternativen geben kann. Kann nur eine der Alternativen zutreffen, spricht man vom ausschließenden (exclusiven) “oder', das Verb erscheint im Singular. Können alle angegebenen Möglichkeiten zutreffen, spricht man vom einschließenden (inclusiven) “oder' (vgl. Duden, Deutsche Grammatik, 4. Aufl., Rn 439, 504). Eine Bedeutung dahingehend, dass alle angegebenen Möglichkeiten (kumulativ) zutreffen müssen, kann allenfalls im Falle einer verneinenden Oder-Verknüpfung in Betracht kommen (aus “nicht A oder nicht B' wird “nicht (A und B)'). Eine solche Verneinung liegt hier aber nicht vor, vielmehr ist RVG VV-Vorbem. 7 Abs. 2 positiv formuliert (“Gemeinde, in der sich die Kanzlei oder die Wohnung … befindet'). Die Verwendung des Verbs im Singular (“befindet') indiziert, dass es sich um ein exclusives “oder' handelt, was damit im Einklang steht, dass der Rechtsanwalt logischerweise nur entweder von seiner Kanzlei oder von seiner Wohnung aus angereist sein kann.
b. Aus der Entstehungsgeschichte lässt sich keine abweichende Bedeutung herleiten. Hier erfolgte eine Definition der Geschäftsreise erstmals in § 28 Abs. 1 S. 2 BRAGO in der ab 1.7.1994 geltenden Fassung. Hierdurch sollte ausweislich der Gesetzesbegründung die in Rspr. und Literatur zum Teil unterschiedlich beantwortete Frage, wann eine Geschäftsreise vorliegt, nunmehr eindeutig geregelt werden.
Aus dem Wegfall der Wohnsitzpflicht folgt ebenfalls keine abweichende Beurteilung. Die Pflicht des Rechtsanwalts, innerhalb des OLG-Bezirks, in dem er zugelassen ist, seinen Wohnsitz zu nehmen (§ 27 Abs. 1 BRAGO in der bis zum 9.9.1994 gültigen Fassung), ist aufgrund des Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte vom 2.9.1994 mit Wirkung zum 9.9.1994 entfallen.
c. Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen ebenfalls für die vom ASt. vertretene Ansicht. Als Auslagen können immer nur tatsächlich angefallene Kosten zur Festsetzung angemeldet werden, entsprechend als Reisekosten nur die Kosten für eine tatsächlich unternommene Reise. Damit kommt es maßgeblich auf den Ort der tatsächlichen Abreise an, namentlich darauf, ob der Rechtsanwalt eine Anreise von seinem Kanzleisitz aus oder von seinem Wohnsitz aus geltend macht. Ausgehend von den Angaben des Rechtsanwalts ist sodann durch den Kostenbeamten zu prüfen, ob der angegebene Ort der Abreise außerhalb der Gemeinde des Prozessgerichts liegt.
Eine andere Betrachtungsweise würde den Kostenbeamten dazu verpflichten, stets zu prüfen, ob der Rechtsanwalt einer außerhalb des Gerichtsortes liegenden Kanzlei nicht innerhalb des Gerichtsortes seinen privaten Wohnsitz hat. Dies würde zumindest in großen Gerichtsorten (Städten) einen hohen Auf...