GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 279 Abs. 3 § 285 § 370 Abs. 1
Leitsatz
Kann die Partei im Anschluss an eine Beweisaufnahme nicht sofort eine Stellungnahme abgeben, insb. weil es sich um eine komplexe Beweisaufnahme handelte oder der Sachverständige neue und ausführliche Beurteilungen gegenüber dem bisherigen Gutachten mitgeteilt hat, sind entweder eine Vertagung oder die Einräumung einer Schriftsatzfrist zur Stellungnahme auf das Beweisergebnis angezeigt. Das Schließen der mündlichen Verhandlung und die Ablehnung von Vertagung und/oder Einräumung einer Schriftsatzfrist stellt eine Verletzung rechtlichen Gehörs dar.
(Leitsatz der Schriftleitung)
BGH, Beschl. v. 28.7.2011 – VII ZR 184/09
Sachverhalt
In einem Bauprozess hatte der Gutachter ein schriftliches Gutachten nebst einer schriftlichen Ergänzung vorgelegt. In der mündlichen Verhandlung an zwei aufeinander folgenden Tagen erläuterte er über 7 Stunden sein Gutachten und nahm auch gegenüber dem hinzugezogenen Privatgutachter Stellung. Der Bekl. und der Streithelfer baten um die Gewährung einer Schriftsatzfrist von vier Wochen, was das BG ablehnte, die mündliche Verhandlung schloss und am gleichen Tage ein Urt. verkündete. Darin sah der BGH eine unzulässige Verkürzung des rechtlichen Gehörs, hob das angefochtene Berufungsurt. auf und verwies die Sache an das BG zurück.
2 Aus den Gründen:
[6] "… 2. Mit diesem Vorgehen hat das BG das rechtliche Gehör der Bekl. und Streithelferin unzulässig verkürzt. Die Prozessbeteiligten sollen nach einer Beweisaufnahme möglichst im gleichen Termin deren Ergebnis erörtern und zur Sache verhandeln, § 279 III, § 285 I, § 370 I ZPO. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs kann aber im Anschluss an eine Beweisaufnahme die Vertagung oder die Gewährung einer Schriftsatzfrist zum Beweisergebnis gebieten, wenn von einer Partei eine umfassende sofortige Stellungnahme nicht erwartet werden kann, weil sie verständigerweise Zeit braucht, um – in Kenntnis der Sitzungsniederschrift – angemessen vorzutragen. Das kann etwa nach einer komplexen Beweisaufnahme oder nach einer umfassenden Erörterung des Gutachtens der Fall sein (Zöller/Greger, ZPO, 28. Aufl., § 285 Rn 2; Musielak/Foerste, ZPO, 8. Aufl., § 285 Rn 2 und § 280 Rn 7 jew. m.w.N.) oder auch dann, wenn der Sachverständige in seinen mündlichen Ausführungen neue und ausführlichere Beurteilungen gegenüber dem bisherigen Gutachten abgegeben hat (BGH NJW-RR 2011, 428 Rn 5 = DS 2011, 168 I; NJW 2001, 2796, 2797; vgl. auch BGH NZBau 2009, 244 = ZfBR 2009, 349 = BauR 2009, 681 Rn 7; BauR 2010, 246 = ZfBR 2010, 130 = BeckRS 2009, 86576 Rn 4)."
[7] a) Dem wird das Berufungsurt. nicht gerecht. Das BG hätte die beantragte Schriftsatzfrist gewähren müssen.
[11] b) Indem das BG keine Frist zur Stellungnahme zum Ergebnis der Beweisaufnahme gesetzt, sondern nach Schluss der mündlichen Verhandlung umgehend sein Urt. gesprochen hat, hat es der Streithelferin die Möglichkeit zu einer sachgerechten Reaktion auf den erreichten Verfahrensstand abgeschnitten. Damit hat es ihr Verfahrensgrundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs in entscheidenden Punkten ihres Verteidigungsvorbringens verletzt. Das Berufungsurt. beruht auf diesen Grundrechtsverletzungen. Denn es ist nicht auszuschließen, dass das BG bei der Beurteilung der für seine Überzeugungsbildung zentralen Ausführungen des Sachverständigen B zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn es den von der Streithelferin in der Nichtzulassungsbeschwerde gehaltenen Vortrag berücksichtigt und ggf. den angetretenen Beweis erhoben hätte. Dasselbe gilt für die Einwände gegen das Gutachten des TÜV R.“
3 Anmerkung:
Von den Prozessgrundrechten (Gewährung des gesetzlichen Richters, Gleichbehandlung und Willkürverbot, faires Verfahren, effektiver Rechtsschutz und rechtliches Gehör) erweist sich die Beachtung des rechtlichen Gehörs wegen der damit verbundenen erhöhten Richtigkeitsgewähr als bedeutsamstes Prozessgrundrecht. Das erweist sich gerade in der Konstellation der ergänzenden oder ausschließlichen mündlichen Erstattung eines Gutachtens, bei der § 285 Abs. 1 ZPO bestimmt, dass die Parteien über das Ergebnis der Beweisaufnahme zu verhandeln haben. Die damit angeordnete sofortige Verhandlung im Termin nach der Erstattung des Gutachtens entspricht dem Prozessgrundrecht des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), führt aber bei einer Unzumutbarkeit sofortiger Stellungnahme der durch die ergänzenden Ausführungen des Gutachters zu einer einem fairem Verfahren (Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG) widersprechenden Verfahrensweise. In dieser Situation kollidierender Prozessgrundrechte gibt das Gebot der Beachtung rechtlichen Gehörs den Ausschlag dafür, dass entweder dem gestellten Antrag auf Gewährung der Schriftsatzfrist zu entsprechen oder ohne diesen gestellten Antrag eine Vertagung anzuordnen ist (Art. 103 Abs. 1 GG; § 227 ZPO). Die nicht sachkundige Partei ist in die Lage zu versetzen, nach Vorliegen des Sitzungsprotokolls und der kritischen Verarbeitung des Beweisergebnisses Stellung zu nehmen (vgl. BGH NJW 1988, 3202; BGH NJW...