BGB § 852 Abs. 1 a.F. § 199 Abs. 1 Nr. 2 Fall 1
Leitsatz
Die für den Beginn der Verjährung erforderliche Kenntnis des Geschädigten kann fehlen, wenn dieser infolge einer durch die Verletzung erlittenen retrograden Amnesie keine Erinnerung an das Geschehen hat.
BGH, Urt. v. 4.12.2012 – VI ZR 217/11
Sachverhalt
Der 1976 geborene Kl. wurde zwischen 1985 und 1990 mehrfach durch den Bekl. sexuell missbraucht. Er hat behauptet, er habe das Geschehen bis zu einer Familienfeier im Jahre 2005 vollständig verdrängt und deshalb keine Kenntnis hiervon gehabt. Nachdem seine Schwester auf der Feier offenbart habe, von dem Bekl. missbraucht worden zu sein, sei die Erinnerung an den eigenen erlittenen Missbrauch zurückgekehrt. Dies habe für ihn massive psychische Folgen in der Form des Vollbilds einer posttraumatischen Belastungsstörung ausgelöst. Das LG hat dem Bekl. zur Zahlung eines Schmerzensgeldes i.H.v. 7.500 EUR verurteilt. Die Berufung des Bekl., der sich auf eine Verjährung des gegen ihn geltend gemachten Anspruchs gewandt hat, hat das BG zurück gewiesen.
Die zugelassene Revision des Bekl. hatte keinen Erfolg.
2 Aus den Gründen:
[6]" … 1. Die Revision wendet sich nicht gegen die Feststellung, dass der Bekl. den Kl. in zwei konkret benannten Fällen sexuell missbraucht hat. Sie wendet sich ebenfalls nicht gegen die rechtlichen Überlegungen des BG hinsichtlich der Anwendung der Verjährungsvorschriften. Hiergegen ist auch aus revisionsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern. Insb. durfte das BG annehmen, dass es an der für den Beginn der Verjährung erforderlichen Kenntnis des Geschädigten vom Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen fehlen kann, wenn der Geschädigte infolge einer durch die Verletzung erlittenen retrograden Amnesie keine Erinnerung mehr an das Geschehen hat (vgl. Senatsurt. v. 22.6.1993 – VI ZR 190/92, VersR 1993, 1121, 1122).
[7] 2. Die Revision wendet sich ohne Erfolg gegen die Beurteilung, die vom Kl. geltend gemachte Schmerzensgeldforderung sei wegen sexueller Übergriffe in den Jahren 1988 und 1990 nicht verjährt. Das BG hat seiner Entscheidung rechtsfehlerfrei die vom LG festgestellten Tatsachen zugrunde gelegt und rechtsfehlerfrei Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen verneint (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
[8] Die Revisionsrüge geht in erster Linie dahin, dass das BG ein aussagepsychologisches Gutachten (Glaubhaftigkeitsgutachten) hätte einholen müssen. Das BG hat dies allerdings zu Recht nicht als erforderlich angesehen, nachdem der Gerichtssachverständige nach umfassender Befragung des Kl. in seinem psychiatrischen Gutachten die Angaben des Kl. als plausibel angesehen hat. Infolgedessen hat es auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen keine Zweifel gegen die Richtigkeit und Vollständigkeit der vom LG getroffenen Feststellung gehabt, dass der Kl. bei Eintritt der Volljährigkeit und danach bis zum April 2005 keine Kenntnis von dem Missbrauch i.S.d. § 852 Abs. 1 BGB a.F. und des § 199 Abs. 1 Nr. 2 Fall 1 BGB hatte.
[9] a) Soweit die Revision geltend macht, der Sachverständige habe die Angaben des Kl. nur als “plausibel’ angesehen, ist darauf hinzuweisen, dass es nicht Aufgabe des Sachverständigen ist, darüber zu befinden, ob die zu begutachtende Aussage wahr ist oder nicht; dies ist dem Tatrichter vorbehalten. Der Sachverständige soll vielmehr dem Gericht die Sachkunde vermitteln, mit deren Hilfe es die Tatsachen feststellen kann, die für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit wesentlich sind (vgl. BGH, Urt. v. 12.11.2003 – 2 StR 354/03, NStZ-RR 2004, 87, 88; Pfister, FPPK 2008, 3, 4). Demgemäß ist die Beurteilung von Zeugenaussagen oder der Glaubhaftigkeit eines Parteivorbringens grds. ureigene richterliche Aufgabe, bei der es nur ausnahmsweise der Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens bedarf (vgl. BGH, Urt. v. 30.7.1999 – 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 182; Pfister, a.a.O., S. 5).
[10] b) Im Streitfall war es nicht erforderlich, zusätzlich zu der psychiatrischen Begutachtung ein aussagepsychologisches Gutachten einzuholen. Gegenstand einer aussagepsychologischen Begutachtung ist – wie sich bereits aus dem Begriff ergibt – nicht die Frage nach einer allgemeinen Glaubwürdigkeit des Untersuchten im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, d.h. einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl. BGH, Urt. v. 30.7.1999 – 1 StR 618/98, a.a.O., 167; v. 30.5.2000 – 1 StR 582/99, NStZ 2001, 45, 46). Vorrangig geht es also um die Analyse des Aussageinhalts, d.h. um eine methodische Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben einem tatsächlichen Erleben entsprechen (vgl. BGH, Urt. v. 11.1.2005 – 1 StR 498/04, NJW 2005, 1519, 1521 m.w.N.; Pfister, a.a.O., S. 6 sowie die vom Bekl. vorgelegte Studie von Volbert, Aussagen über traumatische Erlebnisse, veröffentlicht in FPPK 2011, S. 18, 29). Demgemäß sind die Kriterien für ein aussagepsycho...