Der Entscheidung ist zuzustimmen. Sie ist ein Beleg dafür, dass die "Halbwertzeit" so mancher Entscheidung des BGH doch gelegentlich sehr kurz ist.
Ob der Anwalt eine die Schwellengebühr von 1,3 übersteigende Geschäftsgebühr berechnen darf, ist keine Frage des ihm in § 14 Abs. 1 RVG bei der Bestimmung von Rahmengebühren eingeräumten Ermessens. Sie hängt vielmehr allein davon ab, ob die gesetzlichen Voraussetzungen der Anm. zu Nr. 2300 VV RVG, nämlich eine umfangreiche oder schwierige Anwaltstätigkeit, erfüllt sind. Diese Tatbestandsvoraussetzungen hat das Gericht zu prüfen (so BGH – VIII. ZS – zfs 2012, 584 mit Anm. Hansens – RVGreport 2012, 375 (Hansens) = AGS 2012, 373; OLG Jena RVGreport 2005, 145 (ders.) = AGS 2005, 201 mit Anm. N. Schneider; OLG Celle zfs 2012, 105 mit Anm. Hansens; BSG NJW 2010, 1400 = AGS 2010, 233).
In seinem Urt. v. 8.5.2012 (zfs 2012, 402 = RVGreport 2012, 258) hatte der VI. ZS des BGH die Auffassung der OLG Jena und Celle, a.a.O., noch ausdrücklich abgelehnt und ausgeführt:
"Nach der gesetzlichen Regelung des § 14 Abs. 1 S. 4 RVG steht dem Rechtsanwalt bei der Bestimmung der Gebühr ein Ermessenspielraum zu. Dieser wird nicht – wie das BG meint – dadurch nach oben begrenzt, dass die Anmerkung zu Nr. 2300 VV RVG bei nicht umfangreichen oder schwierigen Sachen eine Regelgebühr von 1,3 vorsieht. Der Ermessenspielraum betrifft nämlich auch die unter Umständen schwierige Beurteilung der Frage, was im Einzelfall "durchschnittlich" ist."
Diesem Urt. des VI. ZS v. 8.5.2012 war somit ganz eindeutig etwas "Abweichendes zu entnehmen", als dieser Senat nunmehr in seinem Urt. v. 5.2.2013 meint. An seiner früheren Auffassung hält der VI. ZS des BGH – zu Recht – nicht mehr fest.
Der IX. ZS des BGH hatte in seinem Urt. v. 13.1.2011 (zfs 2011, 465 mit Anm. Hansens = RVGreport 2011, 136 (Hansens)) ohne nähere Erörterung des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit lediglich ausgeführt:
"Die von den Rechtsanwälten des Kl. berechnete 1,5-fache Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG ist gem. § 14 Abs. 1 S. 4 RVG auch im Verhältnis zur Bekl. verbindlich, weil sie nicht unbillig ist.“"
Mit der besonderen Problematik des Verhältnisses von Schwellengebühr und Toleranzrechtsprechung hatte sich der IX. ZS des BGH in diesem Urteil nicht befasst.
Nach den Ausführungen des VIII. ZS des BGH (zfs 2012, 584 m. Anm. Hansens = RVGreport 2012, 375 (Hansens)) hatte der IX. ZS des BGH auf dessen Anfrage mitgeteilt, dass er ebenfalls dieser Auffassung – nämlich der des VIII. ZS – sei und sich aus seinem Urt. v. 13.1.2011 nichts anderes ergebe. Diese Aussage ist angesichts der vorstehend zitierten Urteilsgründe zwar gewagt. Jedoch ergibt sich daraus immerhin, dass der IX. ZS des BGH zu dieser Problematik nunmehr dieselbe Auffassung vertritt wie der VIII. ZS des BGH und jetzt auch der VI. ZS des BGH.
Damit kann von einer – wieder – einheitlichen Rspr. des BGH ausgegangen werden.
Für den Rechtsanwalt hat dies folgende praktischen Folgen: Berechnet er eine über der Schwellengebühr liegende 1,3 Geschäftsgebühr, so hat er die hierfür maßgeblichen Voraussetzungen anzugeben und hierbei im Einzelnen darzulegen, woraus folgt, dass seine Tätigkeit umfangreich oder schwierig war. Die Richtigkeit dieser Darlegung unterliegt der gerichtlichen Überprüfung, auch wenn sich die von dem Anwalt oberhalb der Schwellengebühr bestimmte Geschäftsgebühr noch innerhalb der Toleranzgrenze von 20 % (1,3 Geschäftsgebühr + 20 % mit 0,26 = 1,56 Gebühr) hält. Es genügt also nicht, unter Hinweis auf durchschnittliche Umstände eine 1,5 Geschäftsgebühr zu bestimmen und sich dabei auf die Toleranzgrenze von 20 % zu berufen.
Angesichts dieser wieder einheitlichen Rspr. des BGH besteht kein Anlass, die Geschäftsgebühr im RVG neu zu regeln. Der Entwurf des 2. KostRMoG sieht vor, die Geschäftsgebühr in Nr. 2300 VV RVG-E zu regeln und den inhaltlich unveränderten Text der Anm. zu Nr. 2300 VV RVG der geltenden Fassung in die neue Nr. 2301 VV RVG-E zu übernehmen. Die Aufspaltung des bisher einheitlich in Nr. 2300 VV RVG geregelten Tatbestandes der Geschäftsgebühr in zwei verschiedene Nrn. des VV RVG kann zu Missverständnissen und zu weiteren Streitfragen führen und ist angesichts der Entscheidung des VI. ZS des BGH entbehrlich geworden.
VRiLG Heinz Hansens