Auch berufen sich Unfallgegner nicht selten jeweilig auf einen Anscheinsbeweis zu Lasten des Unfallgegners, wenn ein Vorfahrtsberechtigter auf ein anderes Fahrzeug auffährt, welches sich zuvor aus einer wartepflichtigen Straße auf die Vorfahrtsstraße begeben hat. Derjenige, der beispielsweise nach rechts auf eine Vorfahrtsstraße aufgefahren ist, wird sich im Moment des Auffahrens des Vorfahrtsberechtigten darauf berufen, dass er sich bereits vollumfänglich in den fließenden Verkehr hinein bewegt hat und eine Wartepflichtverletzung nicht vorliegt, sondern ein alleiniger Auffahrunfall des Vorfahrtsberechtigten. Der Vorfahrtsberechtigte wiederum wird sich in einer solchen Konstellation darauf berufen, dass der Wartepflichtige sein Vorfahrtsrecht missachtet hat und er keine Gelegenheit mehr hatte, sich auf die Wartepflichtverletzung des Rechtsabbiegers einzustellen.
Im Regelfall werden sich solche Unfallkonstellationen außerhalb des eigentlichen Kreuzungs- oder Einmündungsvierecks ereignen. Darum spricht dann zumindest nicht der Anscheinsbeweis für eine Vorfahrtsverletzung im klassischen Sinne, welche oben angesprochen worden ist. Diesbezüglich ist dann jedoch z.B. der Rechtsprechung des Brandenburgischen OLG beizupflichten. Die Wartepflicht des § 8 Abs. 2 StVO gilt nämlich nicht nur für die eigentliche Kreuzungsfläche, sondern darüber hinaus bis zur vollständigen Einordnung des Wartepflichtigen auf der vorfahrtberechtigten Straße bzw. bis die auf der Vorfahrtsstraße allgemein eingehaltene Geschwindigkeit erreicht wird oder der Wartepflichtige sich bereits in stabiler Geradeausfahrt befindet.
Je näher sich das Auffahren zur entsprechenden Einmündung ereignet hat, desto eher ist dann von einer Vorfahrtsverletzung auszugehen. Die Frage, bis zu welcher Entfernung ein Anscheinsbeweis zu Lasten des Wartepflichtigen sprechen kann, hängt dann wiederum – ähnlich wie bei den Konstellationen des Einfahrens in den fließenden Verkehr – davon ab, wie hoch die zulässige Höchstgeschwindigkeit liegt. Im innerstädtischen Bereich wird man eine Entfernung von maximal 30 Metern annehmen können, da jedenfalls bei einer größeren Entfernung durchaus die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass sich der Wartepflichtige bereits in den fließenden Verkehr eingeordnet hat, da wiederum eine solche Strecke ausreicht, um auf ortstypische Geschwindigkeit zu beschleunigen. Im außerörtlichen Bereich, wo höhere Geschwindigkeiten zulässig sind, wird die entsprechende Entfernung wiederum größer sein müssen. Im Ergebnis wird sich also der Vorfahrtsberechtigte auf einen Anscheinsbeweis zu Lasten des Wartepflichtigen berufen können, wenn feststeht, dass sich der Unfall in einer so geringen Entfernung von der Einmündung ereignet hat, dass der Wartepflichtige noch nicht auf die ortstypische Geschwindigkeit beschleunigt haben kann. Dann spricht zu Lasten des Vorfahrtsberechtigten auch nicht der Anscheinsbeweis, da gerade nicht feststeht, dass er sich auf die Fahrweise des davor Fahrenden bereits hätte einstellen können.
Steht wiederum fest, dass das Einfahren des Wartepflichtigen bereits abgeschlossen war und er auf ortsübliche Geschwindigkeit beschleunigt hat, wird zu Lasten des auffahrenden ursprünglich Vorfahrtsberechtigten der Anscheinsbeweis sprechen. Ist wiederum gar nicht aufklärbar, in welcher Entfernung sich das Auffahren ereignet hat und ist es sowohl möglich, dass sich der Wartepflichtige noch nicht in den fließenden Verkehr eingeordnet hat, als auch, dass er dies bereits getan hat, wird keine der beiden Unfallparteien sich auf einen Anscheinsbeweis zu Lasten des Gegners berufen können, so dass dann wiederum lediglich die Abwägung der Betriebsgefahren verbleibt.