BGB § 829
Leitsatz
1. Ein Schadensersatzanspruch aus § 829 BGB ist nicht schon dann zu gewähren, wenn die Billigkeit es erlaubt, sondern nur dann, wenn die gesamten Umstände des Falls eine Haftung des schuldlosen Schädigers aus Billigkeitsgründen geradezu erfordern.
2. Gem. § 829 BGB sind insb. die Verhältnisse der Beteiligten zu berücksichtigen. Dazu bedarf es stets eines Vergleichs der Vermögenslagen der Beteiligten, wobei für einen Anspruch aus § 829 BGB ein "wirtschaftliches Gefälle" zugunsten des Schädigers vorliegen muss. Die Billigkeit erfordert es nicht, dem Bestehen einer freiwilligen Haftpflichtversicherung ungeachtet des Trennungsprinzips eine anspruchsbegründende Bedeutung zukommen zu lassen.
BGH, Urt. v. 29.11.2016 – VI ZR 606/15
Sachverhalt
Der Kl., der seit 1990 Lokführer im Fernverkehr der Deutschen Bahn ist, war mehrfach vor dem Klageereignis in Unfälle verwickelt, bei denen sich Personen das Leben nahmen. Am 24.2.2011 wollte der Kl. mit einem IC aus einem Bahnhof fahren. Der Bekl. saß auf einer Bank an diesem Gleis. Als der Zug anfuhr, sprang der Bekl. plötzlich unmittelbar vor dem IC auf das Gleisbett. Der Kl. konnte den Zug mit einer Schnellbremsung stoppen, so dass der Bekl. nicht verletzt wurde. Der seit längerem psychiatrisch erkrankte und drogenabhängige Bekl. stand zum Zeitpunkt des Vorfalls unter Betreuung und befand sich wegen einer akuten Psychose in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit. Über eigenes Vermögen verfügt er nicht; über seine Mutter ist er haftpflichtversichert.
Der Kl. war für sieben Monate nach dem Vorfall krankgeschrieben; nach seiner Darstellung litt er an einer posttraumatischen Belastungsstörung. In einem Vorprozess wurde seine Klage gegen die Mutter des Bekl. und dessen damalige Betreuerin auf Schadensersatz wegen Verletzung der Aufsichtspflicht abgewiesen. Nunmehr verlangt er von dem Bekl. Schmerzensgeld i.H.v. mindestens 6.000 EUR aus Billigkeitsgründen gem. §§ 829, 253 Abs. 2 BGB.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Kl. war erfolglos. Der BGH billigte die Entscheidung des BG.
2 Aus den Gründen:
[6] "… I. Das BG hat einen Schmerzensgeldanspruch des Kl. gegen den Bekl. aus §§ 829, 253 Abs. 2 BGB verneint. In die Beurteilung der Billigkeit seien alle tat-, täter- und geschädigtenbezogenen Umstände einzubeziehen. Ein wesentlicher Gesichtspunkt sei dabei die wirtschaftliche Situation der Parteien. Hier liege ein wirtschaftliches Gefälle nicht zugunsten des drogenabhängigen und in Ausbildung befindlichen Bekl., sondern allenfalls zugunsten des in ungekündigter Stellung bei der Deutschen Bahn AG befindlichen Kl. vor. Anhaltspunkte dafür, dass der Bekl. in Zukunft zu einem großen Vermögen kommen könnte, bestünden nicht. Der Umstand, dass der Kl., der bereits mehrfach Suizide habe erleben müssen, den Bekl. durch seine sofortige Reaktion vor Verletzungen bewahrt habe, so dass dieser unversehrt aus dem Gleisbett habe steigen können, während der Kl. nach dem Vorfall psychisch erkrankt und über einen längeren Zeitraum arbeitsunfähig gewesen sei, mache eine Schmerzensgeldzahlung nicht notwendig. Die Funktion der Billigkeitshaftung, die als Ausfallhaftung in besonderen Ausnahmefällen zu begreifen sei, liege nicht im Dank für eine besondere Leistung, sondern es müsse ein deutliches Gefälle der Umstände zuungunsten des Schädigers sprechen. Ein solches sei auch deshalb zu verneinen, weil Lokführer von Berufs wegen dem besonderen Risiko aus gesetzt seien, “Opfer eines Selbstmörders' zu werden. Der Gedanke der Selbstaufopferung könne Ansprüche aus §§ 670, 683 BGB analog begründen, nicht aber Schadensersatzansprüche i.S.v. § 253 Abs. 2 BGB, und sei daher bei der Abwägung im Rahmen des § 829 BGB nicht zugunsten des Kl. zu berücksichtigen. Ferner habe unberücksichtigt zu bleiben, dass der Bekl. über seine Mutter privathaftpflichtversichert sei; dies allein könne nicht zur Bejahung der Billigkeitshaftung führen, sondern allenfalls für die Höhe eines zu zahlenden Betrags von Bedeutung sein."
[7] II. Diese Erwägungen halten im Ergebnis revisionsrechtlicher Nachprüfung stand. Da eine Haftung des Bekl. für die von ihm verursachte Verletzung der Gesundheit des Kl. gem. § 823 Abs. 1 BGB mangels Verantwortlichkeit des Bekl. ausscheidet (§ 827 BGB) und Ersatz des Schadens nicht von einem aufsichtspflichtigen Dritten verlangt werden kann, kommt allein eine Ersatzpflicht aus Billigkeitsgründen gem. § 829 BGB in Betracht. Das BG hat eine solche Billigkeitshaftung im Ergebnis rechtsfehlerfrei verneint.
[8] 1. Die tatrichterliche Entscheidung, ob die Billigkeit nach den Umständen eine Schadloshaltung erfordert, ist mit der Revision nur beschränkt angreifbar. Der Nachprüfung unterliegt aber, ob der Tatrichter wesentliche Gesichtspunkte übersehen oder aus rechtsirrigen Erwägungen in ihrer Bedeutung verkannt hat (vgl. Senat v. 15.1.1957 – VI ZR 135/56, BGHZ 23, 90, 100 = VersR 1957, 219, 221).
[9] Dabei muss bedacht werden, dass die verschuldensunabhängige Haftung aus § 82...