AUB 88 § 7 I
Leitsatz
1. Nach der für die Bemessung der Invaliditätsleistung maßgeblichen Gliedertaxe schließt der Verlust oder die Funktionsunfähigkeit eines funktionell höher bewerteten, rumpfnäheren Gliedes den Verlust oder die Funktionsunfähigkeit des rumpfferneren Gliedes ein (hier: Schulter und Hand des rechten Arms). Eine Addition der einzelnen Invaliditätsgrade findet nicht statt.
2. Führt die Funktionsunfähigkeit des rumpfferneren Körperteils zu einem höheren Invaliditätsgrad als die Funktionsunfähigkeit des rumpfnäheren Körperteils, so stellt die Invaliditätsleistung für das rumpffernere Körperteil die Untergrenze der geschuldeten Versicherungsleistung dar.
BGH, Urt. v. 14.12.2011 – IV ZR 34/11
Sachverhalt
Der Kl. macht Invaliditätsansprüche aus einer mit der Bekl. geschlossenen Unfallversicherung geltend. Am 9.8.2003 stürzte er von einer Leiter, wobei er sich unter anderem das Schultergelenk des rechten Armes auskugelte und es zu einer Läsion des Plexus brachialis, d.h. einer Schädigung des den Arm und die Hand versorgenden Nervengeflechts kam. Die dem Versicherungsvertrag zugrunde liegenden AUB 88 enthalten – im Rahmen der üblichen Gliedertaxe – folgende Regelung:
"I. Invaliditätsleistung"
a) Als feste Invaliditätsgrade gelten unter Ausschluss des Nachweises einer höheren oder geringeren Invalidität bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit:
eines Arms im Schultergelenk 70 %
eines Arms bis oberhalb des Ellenbogengelenks 65 %
eines Arms unterhalb des Ellenbogengelenks 60 %
einer Hand im Handgelenk 55 %“ ( … ).
2 Aus den Gründen:
[8] "… 1. Die Revision des Kl. ist unbegründet. Eine über 52,5 % hinausgehende Invaliditätsentschädigung steht dem Kl. jedenfalls nicht zu. Zutreffend ist das BG davon ausgegangen, dass keine Addition der Invaliditätswerte stattfindet, wenn neben Verlust oder Funktionsunfähigkeit eines rumpfnäheren Körperteils zugleich Verlust oder Funktionsunfähigkeit eines rumpfferneren Körperteils vorliegt."
[9] a) AVB sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher VN sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines VN ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an … Hierbei sind Versicherungsbedingungen aus sich selbst heraus zu interpretieren ohne vergleichende Betrachtung mit anderen Bedingungen, die dem VN regelmäßig nicht bekannt sind und auch nicht bekannt sein müssen, so dass ihm eine bedingungsübergreifende Würdigung von vornherein verschlossen bleibt. Die Entstehungsgeschichte der Bedingungen hat ebenso wie ihre spätere Entwicklung außer Betracht zu bleiben … .
[10] b) Ein um Verständnis bemühter VN entnimmt § 7 I (1) AUB 88 zunächst, dass die Bekl. ihm eine Invaliditätsleistung verspricht für den Fall, dass ein Unfall zu einer dauernden Beeinträchtigung seiner körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit (Invalidität) führt. Grundlage für die Berechnung der Leistung bilden die Versicherungssumme und der Grad der unfallbedingten Invalidität. Wie sich die Höhe der Leistungen im Einzelnen bemisst, kann der VN § 7 I (2) a) AUB 88 für die dort genannten Körperteile und Sinnesorgane entnehmen. Die Gliedertaxe bestimmt nach einem abstrakten und generellen Maßstab feste Invaliditätsgrade bei Verlust oder diesem gleichgestellter Funktionsunfähigkeit der mit ihr benannten Glieder. Gleiches gilt bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit eines durch die Gliedertaxe abgegrenzten Teilbereichs eines Gliedes. Demgemäß beschreibt die Regelung abgegrenzte Teilbereiche eines Armes und Beines und ordnet jedem Teilbereich einen festen Invaliditätsgrad zu, der mit Rumpfnähe des Teilgliedes steigt. Die Gliedertaxe stellt damit für den Verlust und für die Funktionsunfähigkeit der in ihr genannten Gliedmaßen oder deren Teilbereiche durchgängig allein auf den Sitz der unfallbedingten Schädigung ab (vgl. zu diesem Verständnis der Gliedertaxe Senat VersR 2011, 202; VersR 2006, 1117 unter II 1a; VersR 2001, 360 unter 2a; VersR 1991, 413).
[11] Der Systematik der Gliedertaxe kann der VN ferner entnehmen, dass für die Bereiche der mit dem Arm und dem Bein zusammenhängenden Körperteile abgestufte Invaliditätsgrade festgesetzt werden, die beim Arm mit der Bewertung der Invalidität eines Fingers mit 5 % beginnen und mit dem Arm im Schultergelenk mit 70 % enden. Hiermit trägt die Gliedertaxe dem Umstand Rechnung, dass Gliedverluste – Entsprechendes gilt für völlige oder teilweise Gebrauchsunfähigkeit – mit zunehmender Rumpfnähe der Stelle, an der das Körperglied verloren gegangen (oder die Gebrauchsbeeinträchtigungen auslösende Ursache zu lokalisieren) ist, zu wachsender Einschränkung der generellen Leistungsfähigkeit von Menschen führen … .
[12] c) Ausgehend hiervon erkennt ein durchschnittlicher VN, dass der Verlust oder die Funktionsunfähigkeit des Armes im Schultergelenk (nur) deshalb mit dem höchsten Invaliditätsgrad von 70 % bemessen wird, weil hierin zugleich die Beeinträchtigung der übrigen Tei...