OWiG § 74 Abs. 2
Leitsatz
Im Hinblick auf das Gebot fairer Verfahrensführung und die sich daraus ergebende prozessuale Fürsorgepflicht ist eine gewisse Verspätung des Betr. in Rechnung zu stellen, wenn dieser ohne ausreichende Entschuldigung nicht pünktlich zur Hauptverhandlung erschienen ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er nicht mehr erscheinen werde. Eine Wartezeit von 15 Minuten bis zu einer Verwerfungsentscheidung ist angemessen. Eine über 15 Minuten hinausgehende Wartepflicht besteht dagegen regelmäßig nicht.
(Leitsätze des Einsenders)
Thüringer OLG, Beschl. v. 29.8.2011 – 1 Ss Rs 86/11
Sachverhalt
Dem Betr. wird vorgeworfen, als Führer eines Pkw am 27.9.2009 gegen 18.23 Uhr auf der BAB 4 in Richtung D bei Kilometer 171,0 die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 22 km/h überschritten zu haben. Wegen dieser Verkehrsordnungswidrigkeit wurde gegen den Betr. mit Bußgeldbescheid der Zentralen Bußgeldstelle der Thüringer Polizei v. 17.12.2009 eine – im Hinblick auf Voreintragungen im Verkehrszentralregister erhöhte – Geldbuße von 140 EUR festgesetzt. Gegen den Bußgeldbescheid erhob der Betr. form- und fristgerecht Einspruch.
In der in Anwesenheit seines Verteidigers durchgeführten Hauptverhandlung am 4.3.2011 hat das AG den Einspruch wegen unentschuldigten Ausbleibens des Betr. nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen.
Gegen das Verwerfungsurt. richtet sich die mit der allgemeinen Sachrüge sowie mit der Verfahrensrüge der Verletzung rechtlichen Gehörs begründete Rechtsbeschwerde des Betr.
Mit der Verfahrensrüge trägt der Betr. unter anderem Folgendes vor:
Die Hauptverhandlung sei auf 10.00 Uhr anberaumt gewesen. Um 10.03 Uhr habe er, der Betr., seinem Verteidiger auf dessen Mobiltelefon eine SMS-Mitteilung folgenden Inhalts geschickt: "Haben uns verspätet. Bin gleich da." Diese Nachricht habe sein Verteidiger dem Tatrichter vorgelesen. Dieser habe hierauf bis "ca. 10.30 Uhr" gewartet und sodann den Einspruch verworfen. Dem Rügevorbringen des Betr. lässt sich außerdem entnehmen, dass er im Pkw seines Cousins, des Zeugen S, mitgefahren sei, welcher der wahre Fahrer des Tatfahrzeugs gewesen sei und zum Zwecke seiner Vernehmung und seines Vergleichs mit der auf den Messfotos abgebildeten Person vor Gericht habe erscheinen sollen. Ihre Verspätung sei darauf zurückzuführen, dass der im Rollstuhl sitzende Zeuge mit seiner, des Betr., Hilfe eine Treppe habe überwinden müssen, um in das Gerichtsgebäude zu gelangen. Der Betr. ist der Meinung, dass "die vom Gericht eingeräumte Wartezeit von 30 min nicht ausreichend" gewesen ist und der Tatrichter verpflichtet gewesen wäre, länger zu warten.
Die zuständige Einzelrichterin des Senats hat auf das als Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde anzusehende form- und fristgerecht eingelegte und begründete Rechtsmittel des Betr. die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung auf dem Gebiet des Verfahrensrecht zugelassen und die Sache dem Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.
Der Senat verwirft die Rechtsbeschwerde.
2 Aus den Gründen:
" … . II … . 1. Die zugelassene Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg."
a) Die vom Betr. mit der Verfahrensrüge vorgebrachte Beanstandung, der Tatrichter hätte seinen Einspruch nicht schon nach einer Wartezeit von 30 Minuten nach § 74 Abs. 2 OWiG verwerfen dürfen, ist unbegründet.
Der Betr. ist i.S.d. § 74 Abs. 2 OWiG in der Hauptverhandlung ausgeblieben, wenn er zu deren Beginn nicht erscheint (vgl. Göhler, OWiG, 15. Aufl., § 74 Rn 28).
Ist der Betr. ohne Entschuldigung nicht pünktlich zur Hauptverhandlung erschienen, soll der Tatrichter allerdings im Hinblick auf das Gebot fairer Verfahrensführung und die sich daraus ergebende Fürsorgepflicht zur Einhaltung einer Wartezeit von 15 Minuten vor Verwerfung des Einspruchs verpflichtet sein. Dabei soll es unter Umständen sogar geboten sein, längere Zeit auf das Erscheinen des Betr. zu warten, etwa wenn dieser sein alsbaldiges Erscheinen innerhalb angemessener Zeit angekündigt hat oder sonst damit zu rechnen ist (vgl. OLG Frankfurt, Beschl. v. 24.8.2007 – 2 Ss-OWi 223/07; KG Berlin, Beschl. v. 5.5.1997 – (4) 1 Ss 94/97, und v. 29.11.2000 – 2 Ss 257/00 – 3 Ws (B) 513/00; OLG Hamm, Beschl. v. 16.6.2006– 3 Ss OWi 310/06, bei juris; OLG Stuttgart, MDR 1985, 871; BayObLG VRS 76, 139 und bei Bär, DAR 1987, 315; Göhler, a.a.O. m.w.N.).
Vorliegend hat der Tatrichter nach dem Rechtsbeschwerdevorbringen des Betr. eine 15 Minuten übersteigende Wartezeit vor Verwerfung des Einspruchs eingehalten. Diese Wartezeit war auch im Hinblick auf das Gebot fairer Verfahrensführung und die sich daraus ergebende prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts nach den konkreten Umständen des Einzelfalls jedenfalls ausreichend.
Der (zwingenden) Verwerfung des Einspruchs ohne Sachverhandlung nach § 74 Abs. 2 OWiG liegt – ebenso wie der Berufungsverwerfung nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO – die Vermutung zugrunde, dass derjenige, der sich ohne ausreichende Entschuldigung nicht zur Verhandlung...