Wozu aber die ganzen Mühen um eine gegenseitige Verständigung zwischen Juristen und Medizinern? Gibt es nicht eine klare Aussage des BGH zu diesem Thema?
In seinem Urteil vom 11.3.2015 (IV ZR 54/14) akzeptierte der BGH folgende Definition aus den Musterbedingungen 2008 des Verbands der privaten Krankenversicherung ohne Beanstandungen:
Zitat
"Arbeitsunfähigkeit im Sinne dieser Bedingungen liegt vor, wenn die versicherte Person ihre berufliche Tätigkeit nach medizinischem Befund vorübergehend in keiner Weise ausüben kann, sie auch nicht ausübt und keiner anderweitigen Erwerbstätigkeit nachgeht."
So klar diese Aussage aus juristischer Sicht sein mag, aus medizinischer Sicht ist sie unverständlich.
Die Kommunikation zwischen Juristen und Mediziner ist prinzipiell nicht unproblematisch. Auf der einen Seite fehlt den Juristen das medizinische Fachwissen, auf der anderen Seite den Medizinern das juristische. Hinzu kommt, dass die Sprache der Juristen nicht immer identisch ist mit der Sprache der Mediziner. Manche Probleme entstehen einfach dadurch, dass Begriffe unterschiedlich definiert und verstanden werden.
Im vorliegenden Fall entsteht z.B. das Problem, dass der Begriff des medizinischen Befunds offenbar unterschiedlich verstanden wird.
Aus medizinischer Sicht ist ein medizinischer Befund ein objektives Ergebnis einer Untersuchung oder Messung. Beispiele für medizinische Befunde wären:
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Körpergewicht, |
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Körpergröße, |
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Haarfarbe, |
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Körpertemperatur, |
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Beweglichkeit eines Gelenks etc. |
Vom medizinischen Befund abzugrenzen ist das Symptom. Ein Symptom ist eine subjektive Empfindung, die von Betroffenen vorgetragen wird. Sie ist prinzipiell nicht objektivierbar. Ein Mediziner kann allenfalls vorgetragene Symptome auf ihre Plausibilität überprüfen. Beispiele für Symptome wären:
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Schmerzen, |
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Schwindel, |
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Konzentrationsstörungen, |
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Missempfindungen |
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etc. |
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinweisen, dass selbst Mediziner nicht immer streng zwischen Befund und Symptom unterscheiden. So kann man auch in ärztlichen Berichten Formulierungen lesen wie z.B.: "Das Fieber ist nur ein Symptom für eine Infektionskrankheit."
Sprachlich gesehen ist dies Unsinn.
Während es in der medizinischen Praxis i.d.R. ohne gravierende Folgen bleibt, wenn zwischen Symptomen und Befunden nicht streng unterschieden wird, sollte im Gutachtenwesen die Kommunikation zwischen Juristen und Medizinern nicht durch einen fehlerhaften Gebrauch der Sprache zusätzlich erschwert werden.
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist die juristische Definition, wonach Arbeitsunfähigkeit vorliegt, wenn der Kläger seine berufliche Tätigkeit "nach medizinischen Befund (…)" nicht ausüben kann, also tatsächlich unverständlich.
Ein Befund alleine entscheidet aus medizinischer Sicht nicht über Arbeitsunfähigkeit. Stattdessen muss ich als Mediziner die von mir erhobenen Befunde mit daraus resultierenden Funktionseinbußen korrelieren. Nicht der Befund entscheidet über Arbeitsunfähigkeit, sondern der befundbezogene Funktionsverlust.
Zur Verdeutlichung dieser Aussage würde ich interessierte Juristen bitten, mir zu sagen, welcher der folgenden Befunde eine Arbeitsunfähigkeit rechtfertigen würde:
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Körpergröße: 180 cm, |
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Körpergewicht: 95 kg, |
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Umfang des linken Kniegelenkes: 35 cm, |
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Oberschenkelumfang 20 cm oberhalb des inneren Kniegelenkspalts: 53 cm, |
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Beweglichkeit des Kniegelenks in Winkelgraden: Beugung 110°, Streckung -10°, |
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stabiler Bandapparat, |
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positive Meniskuszeichen innenseitig. |
Ich hoffe, dass aus dieser kurzen Liste von medizinischen Befunden klar wird, dass allein aufgrund solcher Befunde üblicherweise keine Aussage über Arbeitsfähigkeit oder Arbeitsunfähigkeit möglich ist (es gibt Ausnahmen, z.B. Körpertemperatur 41,5 Grad Celsius).
Es ist daher primär Aufgabe eines medizinischen Sachverständigen, die erhobenen Befunde im Zusammenspiel mit den geschilderten Beschwerden (Symptomen) kritisch zu evaluieren und im Hinblick auf die daraus resultierenden Funktionseinschränkungen im Arbeitsleben zu bewerten.
Danach muss das Belastungsprofil im konkreten Beruf analysiert werden, um schließlich darüber entscheiden zu können, ob eine bestimmte Tätigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich war oder nicht.
Nachfolgend möchte ich das Problem aus Sicht eines medizinischen Gutachters in den Bereichen Orthopädie, Traumatologie und Rehabilitationsmedizin erläutern.