ZPO § 91 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1; VV RVG Abs. 1 Nr. 1 der Anm. zu Nr. 3201
Leitsatz
1. Maßstab für die Notwendigkeit von Kosten zur Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung i.S.d. § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO ist, ob eine verständige und wirtschaftlich vernünftige Partei die Kosten auslösende Maßnahme im damaligen Zeitpunkt als sachdienlich ansehen durfte. Abzustellen ist mithin auf die Sicht der Partei in der konkreten prozessualen Situation und dann zu beurteilen, ob ein objektiver Betrachter aus diesem Blickwinkel die Sachdienlichkeit bejahen würde. Die Notwendigkeit bestimmt sich daher aus der "verobjektivierten" ex-ante-Sicht der jeweiligen Prozesspartei und nicht nach einem rein objektiven Maßstab (Fortführung des Senatsbeschl. v. 25.1.2017 – XII ZB 447/16, RVGreport 2017, 143 und Abgrenzung zum Beschl. v. 25.2.2016 – III ZB 66/15, RVGreport 2016, 186 = zfs 2016, 285).
2. Ist dem Berufungsbeklagten mit dem Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts nach § 522 Abs. 2 ZPO eine Berufungserwiderungsfrist gesetzt und reicht der Berufungsbeklagte nach Berufungsrücknahme eine Berufungserwiderung ein, sind die hierdurch entstandenen Kosten erstattungsfähig i.S.v. § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO, wenn er sich bei der Einreichung in nicht vorwerfbarer Unkenntnis von der Rücknahme der Berufung befunden hat (Abgrenzung zum Beschl. v. 25.2.2016 – III ZB 66/15, RVGreport 2016, 186 = zfs 2016, 285).
3. Ein Schriftsatz ist bereits eingereicht i.S.d. Ermäßigungstatbestands von Nr. 3201 Abs. 1 Nr. 1 RVG-VV, wenn er so auf den Weg gebracht worden ist, dass sein Zugang ausschließlich von der Tätigkeit Dritter, etwa eines Postbeförderungsunternehmens, abhängig ist.
BGH, Beschl. v. 7.2.2018 – XII ZB 112/17
Sachverhalt
Der Kl. hatte gegen das zu seinem Nachteil ergangene Urteil des LG Lüneburg am 24.5.2016 Berufung eingelegt. Diese begründete er mit seinem am 21.7.2016 bei dem Berufungsgericht – dem OLG Celle – eingegangenen Schriftsatz. Das OLG Celle wies den Kl. durch Beschl. v. 2.8.2016 darauf hin, es beabsichtige, die Berufung des Kl. durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen. Dieser Beschluss wurde der Prozessbevollmächtigten der Bekl. zusammen mit der Berufungsbegründung vom 9.8.2016 mit einer Erwiderungsfrist von einem Monat zugestellt. Mit seinem am 16.8.2016 datierten und an demselben Tag beim OLG Celle per Telefax eingegangenen Schriftsatz nahm der Kl. seine Berufung zurück. Das OLG Celle hat hieraufhin durch Beschluss vom 16.8.2016 dem Kl. die Kosten der Berufung auferlegt. Dieser Beschluss wurde der Prozessbevollmächtigten der Bekl. zusammen mit der Berufungsrücknahme am 22.8.2016 zugestellt. Mit dem am 22.8.2016 beim OLG Celle eingegangenen Schriftsatz vom 19.8.2016 beantragte die am 21.6.2016 von der Bekl. beauftragte Prozessbevollmächtigte der Bekl., die Berufung des Kl. zurückzuweisen.
Im Kostenfestsetzungsverfahren hat die Bekl. die Festsetzung einer 1,6 Verfahrensgebühr nach Nr. 3200 VV RVG nebst Auslagen beantragt. Die Rechtspflegerin des LG Lüneburg hat lediglich eine 1,1 Verfahrensgebühr nach Nr. 3201 VV RVG festgesetzt. Die Absetzung des Mehrbetrages begründete die Rechtspflegerin damit, die Stellung eines Berufungszurückweisungsantrags sei in Anbetracht der bereits zuvor erfolgten Berufungszurücknahme zur Rechtsverteidigung objektiv nicht erforderlich gewesen. Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde hatte beim OLG Celle (RVGreport 2017, 109 [Hansens] = AGS 2017, 99) Erfolg. Dabei hat das OLG Celle ausdrücklich der Auffassung des III. ZS des BGH (RVGreport 2016, 186 [ders.] = zfs 2016, 285 m. Anm. Hansens = AGS 2016, 252) widersprochen, erstattungsfähig seien nur die objektiv erforderlichen Kosten.
2 Aus den Gründen:
" … [5] B. Die Rechtsbeschwerde ist gem. § 574 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. (…)"
[9] II. Das OLG hat die der Berufungsbeklagten durch den Antrag auf Zurückweisung der bereits begründeten Berufung entstandenen Kosten trotz der zuvor erfolgten Berufungsrücknahme zutreffend als erstattungsfähig i.S.v. § 91 ZPO angesehen.
[10] 1. Für die Tätigkeit der Prozessbevollmächtigten der Bekl. in der Berufungsinstanz ist eine 1,6-Verfahrensgebühr nach Nr. 3200 VV RVG angefallen, was – letztlich zu Recht – weder das OLG noch die Rechtsbeschwerde in Zweifel ziehen. Die Verfahrensgebühr ist nicht nach Nr. 3201 Abs. 1 Nr. 1 VV RVG wegen vorzeitiger Beendigung des Auftrags auf 1,1 ermäßigt. Hierfür hätte der Auftrag der Prozessbevollmächtigten der Bekl. endigen müssen, bevor sie ihren den Sachantrag enthaltenden Schriftsatz eingereicht hatte. Das ist jedoch vorliegend nicht der Fall.
[11] a) Der Auftrag konnte in zeitlicher Hinsicht nicht endigen, bevor die Beklagtenvertreterin die Möglichkeit hatte, von der Berufungsrücknahme Kenntnis zu erlangen (vgl. BAG RVGreport 2012, 349 [Hansens] = AGS 2013, 98, 100; Feller, in: Göttlich/Mümmler, RVG, 6. Aufl. "Verfahrensgebühr" Anm. 4.3; Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, RVG, 23. Aufl., VV 3101 Rn 12 m.w.N.; Mayer, in: Mayer/Kroiß, RVG, 7. Aufl., Nr. 3101 VV...