BGB § 823 Abs. 1 § 832 Abs. 1 S. 1 § 1626 § 1631
Leitsatz
Überlassen Eltern ihrer neun Jahre alten Tochter, die eine weit geschnittene Jogginghose trägt, ein Fahrrad mit abmontiertem Kettenschutz zur Fahrt im öffentlichem Verkehr, was die Gefahr eines Verfangens der Hose in der Fahrradkette oder im äußeren Zahnkranz begründet, liegt darin eine Aufsichtspflichtverletzung der Eltern, die bei einer Verwirklichung der Gefahr und einem dadurch herbeigeführtem Schaden die Eltern zum Schadensersatz verpflichtet.
(Leitsatz der Schriftleitung)
LG Wuppertal, Urt. v. 17.10.2017 – 16 S 59/17
Sachverhalt
Die Bekl. überließen ihrer damals neun Jahre alten Tochter ein Fahrrad mit abmontiertem Kettenschutz zur Fahrt im öffentlichen Straßenverkehr. Die Tochter der Bekl. trug eine Jogginghose, die im unteren Beinbereich weitgeschnitten war. Beim Fahren verfing sich die Hose an der Fahrradkette oder im äußeren Zahnkranz. Das Mädchen verriss den Lenker des Fahrrads und beschädigte das geparkte Fahrzeug des Kl. Das AG gab der Schadensersatzklage des Kl. statt. Die Berufung der Bekl. blieb erfolglos.
2 Aus den Gründen:
" … Gem. § 832 Abs. 1 S. 1 BGB ist derjenige, der kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit oder wegen ihres geistigen oder körperlichen Zustands der Beaufsichtigung bedarf, zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt."
Danach sind die Bekl., deren Aufsichtspflicht als Eltern ihrer zum Zeitpunkt des Schadenseintritts neunjährigen Tochter J aus §§ 1626, 1631 BGB folgt, zum Schadensersatz in dem geltend gemachten Umfang verpflichtet.
[8] Denn J hat dem Kl. widerrechtlich einen Schaden zugefügt, indem sie dessen Fahrzeug, durch eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB beschädigt hat.
[9] Der durch die Kollision von J mit dem Pkw des Kl. entstandene Schaden – d.h. die Verletzung seines Eigentums gem. § 823 Abs. 1 BGB – ist zwischen den Parteien unstreitig.
[10] Die Eigentumsverletzung erfolgte auch durch eine tatbestandsmäßige Handlung von J.
[11] Soweit die Berufung in diesem Zusammenhang rügt, das AG sei bei Verwertung der in dem vorausgegangenen Rechtsstreit 25 C 301/14 durchgeführten Zeugenvernehmung im Wege des Urkundenbeweises an das im Vorprozess gewonnene Beweisergebnis gebunden und demgemäß gehalten gewesen, zu dem gleichen Beweisergebnis zu gelangen – d.h. der Annahme einer lediglich reflexartigen Bewegung von J – trifft dies nicht zu. Vielmehr ist das AG auch bei Verwertung der in dem Vorprozess durchgeführten Zeugenvernehmungen hinsichtlich der Würdigung der Beweisergebnisse in dem vorliegenden Rechtsstreit frei. Dies folgt unmittelbar aus § 286 ZPO, wonach das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden hat, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. Eine Einschränkung dieses Grundsatzes der freien Beweiswürdigung in der von den Berufungsführern bezeichneten Weise kennt das Gesetz hingegen nicht.
[12] Darüber hinaus bestehen auch keinerlei konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Feststellungen des AG in dem angefochtenen Urteil unrichtig oder unvollständig sein könnten, sodass die Kammer gem. § 529 Abs. 1 ZPO an diese gebunden und demgemäß von einer tatbestandsmäßigen Handlung von J i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB auszugehen ist. Nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme – dies meint der Verwertung der Zeugenaussagen aus dem Vorprozess im Wege des Urkundenbeweises – ist es nicht zu beanstanden, dass das AG von einer willensgesteuerten Handlung von J ausgegangen ist. Denn danach hat J zunächst bemerkt, dass sie sich mit ihrer Hose in der Fahrradkette bzw. dem äußeren, vorderen Zahnkranz ihres Fahrrads verfangen hat, ehe sie sich dazu entschied, den Blick nach unten zu richten, wodurch sie letztlich den Lenker verriss und gegen den geparkten Pkw des Kl. geriet.
[13] Da im Rahmen des § 823 BGB die Rechtswidrigkeit der Rechtsgutverletzung durch die tatbestandsmäßige Handlung indiziert wird, erfolgte die Eigentumsverletzung durch J auch rechtswidrigerweise. Rechtsfertigungsgründe sind nämlich weder vorgetragen noch sonst wie ersichtlich.
[14] Die Haftung der Bekl. ist nicht nach § 832 Abs.1 S. 2 BGB ausgeschlossen.
[15] Danach tritt die Ersatzpflicht des Aufsichtspflichtigen für den vom Aufsichtsbedürftigen verursachten Schaden nicht ein, wenn er (d.h. der Aufsichtspflichtige) seiner Aufsichtspflicht genügt oder wenn der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden sein würde.
[16] Die Voraussetzungen dieses Entlastungstatbestands – hinsichtlich derer die Bekl. darlegungs- und beweisbelastet sind – liegen indes nicht vor.
[17] Vielmehr ist in Ansehung sämtlicher Umstände des zur Entscheidung vorliegenden Einzelfalls von einer Aufsichtspflichtverletzung der Bekl. auszugehen.
[18] Aufsicht bedeutet, den Aufsichtsbedürftigen zu beobachten und zu überwachen, zu belehren un...