VVG § 19 ff.
Leitsatz
1. Liest ein Versicherungsvertreter bei Aufnahme eines Versicherungsantrags die zahlreiche Erkrankungen betreffenden Gesundheitsfragen so schnell vor, dass der Inhalt nicht erfasst werden kann, so sind Fehlvorstellungen der VN nicht auszuschließen, die der Annahme von Arglist entgegenstehen.
2. Eine spontane Offenbarungspflicht besteht bei psychischen Erkrankungen nur, wenn sich die Bedeutung der Erkrankung für den VN aufdrängen musste.
(Leitsätze der Schriftleitung)
OLG Stuttgart, Urt. v. 19.4.2012 – 7 U 157/11
Sachverhalt
Die Kl. beantragte am 16.8.2004 bei der Bekl. eine BU-Versicherung. Die Antragsfrage nach Krankheiten, Störungen oder Beschwerden waren in dem von der Versicherungsvertreterin schnell verlesenen Antragsformular durch Anführung zahlreicher denkbarer Krankheiten veranschaulicht. Die Kl. verneinte – bis auf die Angabe einer Unfallverletzung und eine Krampfadernbehandlung – Vorerkankungen, obwohl sie von 1998 bis 2002 wegen einer Depression und des Verdachts der Schizophrenie in nervenärztlicher Behandlung war. Im März 2008 beanspruchte die Kl. Leistungen wegen Rückenproblemen.
2 Aus den Gründen:
“ … 2. Die Klage ist begründet. Das streitige Versicherungsverhältnis besteht unverändert fort. Die Bekl. hat das Versicherungsverhältnis nicht mit Schreiben vom 13.5.2008 wirksam angefochten. …
2.1.3. Die Kl. hat gegenüber der Bekl. vor Vertragsschluss objektiv weder ihre Erkrankung an einer Depression in den Jahren 1998 bis 2002 noch die damit verbundenen Arztbesuche bei ihrer Nervenärztin Frau Dr. W noch die regelmäßige Medikamenteneinnahme angegeben. Nach ihrem eigenen Vorbringen hat die Kl. diese Umstände auch gegenüber der Versicherungsvertreterin B nicht offengelegt, so dass auch insoweit keine Wissenszurechnung auf die Bekl. nach der “Auge und Ohr'-Rspr. erfolgt. … Bei den nicht angezeigten Tatsachen handelt es sich auch um gefahrerhebliche Umstände i.S.d. §§ 22, 16 VVG a.F., weil diese geeignet waren, die Willensbildung der Bekl. bei Vertragsschluss zu beeinflussen.
2.1.4. Die Kl. hat die Bekl. aber nicht über diese Umstände getäuscht i.S.d. §§ 22 VVG a.F., 123 BGB. Nach st. Rspr. des BGH setzt eine arglistige Täuschung eine Vorspiegelung falscher oder ein Verschweigen wahrer Tatsachen gegenüber dem VR zum Zwecke der Erregung oder Aufrechterhaltung eines Irrtums voraus. Der VN muss vorsätzlich handeln, indem er bewusst und willentlich auf die Entscheidung des VR einwirkt. Falsche Angaben in einem Versicherungsantrag allein rechtfertigen den Schluss auf eine arglistige Täuschung nicht. Denn es existiert kein allgemeingültiger Erfahrungssatz, dass eine bewusst unrichtige Beantwortung einer Antragsfrage immer und nur in der Absicht erfolgt, auf den Willen des VR einzuwirken. …
Unstreitig sind der Versicherungsantrag und die weitere Erklärung vom 16.8.2004 im Beisein der Kl. durch die Versicherungsvertreterin B ausgefüllt worden, nachdem diese der Kl. die Fragen vorgelesen hatte.
Unter diesen Umständen hat der VR, der sowohl hinsichtlich der Täuschung als auch hinsichtlich eines arglistigen Handelns des VN beweisbelastet ist, den Nachweis zu führen, dass der Versicherungsvertreter dem Antragsteller die Fragen in einer Art und Weise vorgelesen hat, die das Ausfüllen des Formulars durch den Versicherungsvertreter einer eigenverantwortlichen Beantwortung durch den Antragsteller vergleichbar erscheinen erlassen. … Von einer solchen Gleichwertigkeit kann lediglich dann ausgegangen werden, wenn jede Frage vollständig vorgelesen und im Einzelnen mit dem Antragsteller besprochen wird. Macht der Versicherungsvertreter hierbei ergänzende Anmerkungen, welche den Inhalt der schriftlichen Fragen relativieren, so muss der Antragsteller die Fragen allein in dem mündlich gestellten Umfang beantworten (vgl. OLG Stuttgart VersR 2008, 197 … ).
Den Nachweis, dass die Versicherungsvertreterin B der Kl. die Fragen in einer Art und Weise vorgelesen hat, die das Ausfüllen des Formulars durch die Zeugin B einer eigenverantwortlichen Beantwortung durch die Kl. vergleichbar erscheinen lassen, hat die Bekl. nicht geführt. Dabei kann angenommen werden, dass die Zeugin B entsprechend ihrer Aussage der Kl. das Antragsformular vollständig vorgelesen hat, also auch die auf S. 3 zitierte Passage. Der Nachweis, dass dies in einer angemessenen und einer eigenverantwortlichen Beantwortung durch die Kl. gleichkommenden Weise geschehen ist, kann aber nicht als geführt angesehen werden. Denn die Zeugin hat bei ihrer Einvernahme das Vorlesen des Antragsformulars demonstriert und sich dabei selbst mit der Feststellung unterbrochen, dass sie ziemlich schnell vorlese, alles in einem Zug. Dies deckt sich auch mit dem Eindruck des Senats. Es war nicht möglich, der Zeugin so zu folgen, dass Punkt für Punkt der Erklärungsgehalt aller 30 genannten Erkrankungen erfasst werden konnte. Es ist im Ergebnis nicht festzustellen, dass die Kl. den Erklärungsinhalt erfasst und im Antrag in zurechenbarer Weise falsche Angaben gemacht hat.
Jedenfalls ist nach dem Ergebnis der Beweisa...