[Ohne Titel]
Im Jahre 2010 erlitten in Deutschland insgesamt 374.818 Personen Verletzungen bei einem polizeilich aufgenommenen Verkehrsunfall, davon 308.550 leichte Verletzungen. Ein erheblicher Teil dieser Verletzungen spielen sich im Bereich der Halswirbelsäule (HWS) ab, die aufgrund eines Auffahrunfalls entstehen. Im Jahre 1997 entfielen 90 % der Personenschäden auf das HWS-Schleudertrauma bzw. medizinisch die HWS-Distorsion.
A. Problemstellung
1. Haftungsbegründende Kausalität
Die Geschädigten und mit ihnen die Sozialleistungen übernehmenden Sozialversicherungsträger stehen aber insbesondere bei Auffahrunfällen, die nur eine geringe oder mäßige Kollisionsgeschwindigkeit aufweisen, vor dem Problem der Nachweisbarkeit des Ursachenzusammenhanges zwischen dem Aufprall und der erlittenen Gesundheitsverletzung. So sollen nach einhelliger Meinung in der obergerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich Atteste, die unmittelbar nach dem Unfall durch Ärzte erstellt wurden, nicht zum Beweis der haftungsbegründenden Kausalität ausreichen.
Die Rechtsprechung des BGH ist inzwischen dazu übergegangen, eine sogenannte generelle Harmlosigkeitsgrenze nicht mehr anzunehmen. Nach dieser Grenze sollten Gesundheitsschäden bei geringen Kollisionsgeschwindigkeiten pauschal überhaupt nicht vorliegen. Es muss nunmehr in jedem Fall eine umfassende Einzelfallprüfung anhand von Gutachten erfolgen.
2. Schwerwiegende Verletzungen trotz geringer Kollisionsgeschwindigkeit
Dennoch kann die vom BGH geforderte Einzelfallprüfung durch in der Regel teure Sachverständigengutachten in manchen Fällen außer Verhältnis zum geltend gemachten Schadensersatz stehen, da die Heilbehandlungskosten aufgrund der erlittenen leichten Verletzungen (Prellungen etc.) eher gering sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass aufgrund einer geringen Kollisionsgeschwindigkeit sich eine HWS-Distorsion durch ein medizinisches Gutachten nachweisen lässt, ist nicht sehr hoch. Insofern schrecken Geschädigte und Sozialversicherungsträger vor einem Prozess zurück. Faktisch erlangt damit die "Harmlosigkeitsgrenze" durchaus noch Wirkung. Dieser Zustand ist aber bedenklich, da er dazu führen kann, dass Geschädigte aufgrund subjektiv erfahrener Beschwerden bei einem Verkehrsunfall davon absehen, einen Rettungswagen zu rufen oder eine ärztliche Abklärung der Beschwerden herbeizuführen, weil dann die Zuzahlung anfällt. Es ist aber nicht auszuschließen, dass sich durch den Unfall gerade doch schwerwiegende behandlungsbedürftige Verletzungen manifestieren, die dann nicht oder zu spät behandelt würden. So kann es zum Beispiel schon durch einen unvermittelten Anstieg des Blutdruckes zu einer Ruptur eines – bis zum Unfall unbekannten – Aneurysmas kommen, was Lebensgefahr bedeutet.
B. Lösungsansatz
1. Gesundheitsverletzung nach § 823 BGB
Bei der allgemeinen Diskussion fällt auf, dass sich die Positionen zwischen den Polen "Vorliegen einer HWS-Distorsion" und "Nicht-Vorliegen" bewegen. Erst wenn eine HWS-Distorsion bewiesen sei, könne eine Gesundheitsverletzung bei einem Auffahrunfall im Sinne von § 823 BGB gegeben sein.
Aufgrund eines Unfalls können aber körperliche Beeinträchtigungen im Sinne des § 823 BGB entstehen, die nicht die medizinische Diagnose einer HWS-Distorsion erfüllen.
Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass sich zumindest die Kosten des Rettungswagens und die diagnostische Abklärung als vom Schädiger zu tragende Kosten ohne eine umfassende Beweisaufnahme allein mit der Aussage des Geschädigten beweisen lassen.
a) Subjektiv geschilderte Beschwerden ausreichend
In der Rechtsprechung der Land- und Amtsgerichte hat sich diese Ansicht teilweise durchgesetzt. Die Landgerichte Braunschweig und Aurich (als das ein amtsgerichtliches Urteil bestätigendes Berufungsgericht) haben bei einer Klage des Sozialversicherungsträgers gegen die Kfz-Haftpflichtversicherung auf Rückzahlung der entstanden unmittelbaren Heilbehandlungskosten gem. § 116 SGB X (Rettungswagen und ambulante Behandlung) jeweils die vom Geschädigten subjektiv geschilderten Beschwerden als ausreichend angesehen. Während ersteres einen Anscheinsbeweis annahm, war letzteres allein aufgrund der Zeugenaussage...