I. Argumentation des BGH

Man kann darüber diskutieren, ob die vom Kl. vorgetragenen Tätigkeiten seines Rechtsanwalts als umfangreich und/oder schwierig zu qualifizieren sind und bereits aus diesem Grunde das Überschreiten der Schwellengebühr gerechtfertigt ist. Der BGH hat seine Entscheidung ausdrücklich nicht hierauf gestützt und ausgeführt, die von dem Rechtsanwalt vorgenommene Gebührenbestimmung sei auch hinsichtlich seiner Einstufung als umfangreiche oder schwierige Tätigkeit grds. vom Gericht nicht zu überprüfen.

Ich halte die Argumentation des VI. ZS des BGH ebenso wie das Urt. des IX. ZS des BGH zfs 2011, 465 m. Anm. Hansens für falsch, weil die Frage, ob die Anwaltstätigkeit umfangreich und/oder schwierig i.S.d. Anm. zu Nr. 2300 VV RVG ist, gesetzliche Tatbestandvoraussetzung ist und es hierbei nicht um das dem Rechtsanwalt bei der Bestimmung von Rahmengebühren eingeräumte Ermessen geht.

Auch die Begründung des BGH überzeugt teilweise nicht. Der Anwalt des Kl. hatte hier eine 1,5 Geschäftsgebühr bestimmt. Dies ist die Mittelgebühr, die im Regelfall bei durchschnittlichen Umständen anzusetzen ist. Der Anwalt hatte hier deshalb nicht – wie der BGH formuliert – "Umstände darzulegen, welche zwingend die Annahme einer überdurchschnittlichen Tätigkeit rechtfertigen". Dies wäre nur dann erforderlich gewesen, wenn der Anwalt eine höhere als die Mittelgebühr von 1,5 berechnet hätte. Hier ging es lediglich um die Frage, ob die Voraussetzungen für die Überschreitung der Schwellengebühr von 1,3 – nämlich eine umfangreiche oder schwierige anwaltliche Tätigkeit – erfüllt waren. Dies hat der BGH nicht geprüft und die Überschreitung der Schwellengebühr mit dem Hinweis auf die Toleranzgrenze auch dann angenommen, wenn noch keine "überdurchschnittliche Tätigkeit" des Anwalts anzunehmen sei.

II. Abweichende Rechtsprechung des BSG

Das BSG NJW 2010, 1400 = AGS 2010, 233 hat dies für die Geschäftsgebühr nach Nr. 2400 VV RVG zu Recht anders als der BGH hier gesehen. Das BSG hat ausgeführt: "Eine gesonderte Bedeutung kommt dem Umfang und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit damit nicht innerhalb der Abwägung nach § 14 RVG zu, sondern einzig für die Öffnung des Gebührenrahmens über die Schwellengebühr hinaus". Folgerichtig hat das BSG folgende Prüfung vorgenommen:

In einem ersten Schritt sei die Gebühr ausgehend von der Mittelgebühr zu bestimmen.

Liege diese über der Schwellengebühr, sei in einem zweiten Schritt zu beurteilen, ob es bei der ermittelten Gebühr bleibt. Dies sei der Fall, wenn der Umfang und/oder die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit mehr als durchschnittlich waren.

Sei dies nicht der Fall, so werde die an sich zutreffende Gebühr in Höhe des Betrages der Schwellengebühr gekappt.

Erstaunlicher Weise hat der VI. ZS des BGH diese Entscheidung des BSG in seinem Urt. noch nicht einmal zitiert, geschweige denn widerlegt.

III. Praktische Auswirkungen

Bei all dieser Kritik will ich aber auch nicht verschweigen, dass das Urt. des VI. ZS des BGH den seltenen Ausnahmefall einer anwaltsfreundlichen gebührenrechtlichen Entscheidung darstellt. Gerade aus letzter Zeit sind meist nur dem Anwalt nachteilige unrichtige Entscheidungen des BGH in Erinnerung geblieben. So sei etwa auf die durch § 15a RVG überholte Rspr. zur zwingenden Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr oder auf die leider immer noch aktuelle Rspr. des BGH verwiesen, die den Anfall der Terminsgebühr für Besprechungen in Verfahren verneint, in denen keine mündliche Verhandlung vorgeschrieben oder möglich ist, siehe zuletzt BGH RVGreport 2012, 184 (Hansens). Deshalb sollte sich die Anwaltschaft nicht zieren, die anwaltsfreundlichen Entscheidungen des IX. und des VI. ZS des BGH hier in der Praxis anzuwenden.

Gerade bei der außergerichtlichen Regulierung von Verkehrsunfallschäden hat diese Rspr. erhebliche praktische Auswirkungen. Im Durchschnittsfall ist von der 1,3 Geschäftsgebühr auszugehen, so BGH zfs 2007, 102 m. Anm. Hansens. Bestimmt der Rechtsanwalt in einem solchen Durchschnittsfall eine 1,5 Geschäftsgebühr, ist dies hinzunehmen, wenn keine Anhaltspunkte für einen Ermessensfehlgebrauch vorliegen. Eine gerichtliche Überprüfung der Gebührenbestimmung durch das Gericht findet dann nicht statt. Der Anwalt muss im Rechtsstreit lediglich die Umstände vortragen, die ihn zur Bestimmung der 1,5 Geschäftsgebühr bewogen haben, wozu auch Ausführungen zum Umfang und zur Schwierigkeit seiner Tätigkeit gehören. Nur dann, wenn das Gericht konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass der Anwalt sein Ermessen bei der Gebührenbestimmung ermessenfehlerhaft ausgeübt hat, kann das Gericht diese Bestimmung überprüfen. Kommt es hierbei zu dem Ergebnis, dass die von ihm als billig angesehene Gebühr erheblich von der vom Anwalt bestimmten Gebühr abweicht, kommt eine Herabsetzung in Betracht. Das beschränkt sich jedoch auf Ausnahmefälle, in denen etwa sämtliche Umstände i.S.v. § 14 Abs. 1 RVG als unterdurchschnittlich zu bewerten sind. Gerade bei der Verkehrsunfallschaden...

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