BGB § 280 Abs. 1 § 675; BRAO § 43
Leitsatz
1. Die Verpflichtung des Rechtsanwalts, die zugunsten seiner Partei sprechenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte so umfassend wie möglich darzustellen, erfährt durch den Grundsatz "iura novit curia" keine Einschränkung.
2. Wird eine Klage auf mehrere selbstständige Vertragsverletzungen (hier: fehlerhafter Transport sowie unzureichende Versicherung verschiffter Güter) gestützt, hat der Rechtsanwalt zu den jeweiligen Anspruchsvoraussetzungen substantiiert vorzutragen.
BGH, Urt. v. 10.12.2015 – IX ZR 272/14
Sachverhalt
Die Kl. beauftragte die D-GmbH auf der Grundlage eines Speditionsvertrages mit der Verschiffung mehrerer Maschinen von den USA nach Frankreich. Die Maschinen erlitten bei der Überfahrt Schäden. Die durch den beklagten Rechtsanwalt vertretene Kl. nahm im Vorprozess die D-GmbH wegen der Verletzung speditioneller Pflichten in Anspruch. Zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens war es streitig, ob der Spediteur vertraglich zum Abschluss einer Allgefahrendeckung verpflichtet gewesen war, die den Schaden abgedeckt hätte, oder ob lediglich eine Strandungsfalldeckung (C-Klausel) vereinbart war. Eine Allgefahrenversicherung hatte der Spediteur nicht abgedeckt. Das in der Berufungsinstanz tätige OLG ging auf die Frage der vereinbarten Versicherungseindeckung nicht ein und gab der Klage im Vorprozess nur i.H.v. ca. 14.000 EUR statt.
Zur Begründung der Klage gegen seinen Rechtsanwalt im Vorprozess auf Schadensersatz einschließlich der Kosten des Ausgangsverfahrens hat die Kl. dem Bekl. vorgeworfen, im Ausgangsverfahren nicht ausreichend deutlich gemacht zu haben, dass die D-GmbH zum Abschluss einer Allgefahrenversicherung verpflichtet gewesen sei, die den gesamten eingetretenen Schaden gedeckt hätte. Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Kl. blieb erfolglos. Die zugelassene Revision führte zur Aufhebung der Entscheidung und Zurückverweisung an das BG.
2 Aus den Gründen:
[4] "… I. Das BG hat ausgeführt, es fehle an einer objektiven Pflichtverletzung des Bekl.. Dieser habe ausweislich der Klageschrift des Vorprozesses vorgetragen, dass der Abschluss einer All-Risk-Versicherung vereinbart gewesen sei, die D-GmbH jedoch abredewidrig eine Seetransportversicherung mit C-Klausel abgeschlossen habe. Die behauptete Vereinbarung, eine All-Risk-Versicherung abzuschließen, habe der Beklagte außerdem unter Beweis gestellt. Dass eine All-Risk-Versicherung sämtliche Schäden abdecke, ergebe sich schon aus ihrer Bezeichnung. Daher sei ein Anwaltsfehler des Bekl. hier nicht zu erkennen. Er könne allenfalls in dem unterlassenen Hinweis an das BG liegen, nachdem das Erstgericht auf die Frage der fehlerhaften Eindeckung nicht eingegangen sei. Ein solcher Hinweis sei erst in der mündlichen Verhandlung erfolgt. Da die insoweit notwendigen Tatsachen vollständig vorgetragen worden seien, habe der Beklagte nicht zu verantworten, dass das BG diesem Hinweis nicht nachgegangen sei (“iura novit curia’)."
[5] II. Diese Ausführungen halten rechtlicher Prüfung nicht stand.
[6] 1. Es ist Aufgabe des Rechtsanwalts, der einen Anspruch seines Mandanten klageweise geltend machen soll, die zugunsten seiner Partei sprechenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte so umfassend wie möglich darzustellen, damit sie das Gericht bei seiner Entscheidung berücksichtigen kann (BGH NJW 2013, 2965 = WM 2013, 1754 Rn 8).
[7] a) Zwar weist die Zivilprozessordnung die Entscheidung und damit die rechtliche Beurteilung des Streitfalls dem Gericht zu; dieses trägt für sein Urteil die volle Verantwortung. Es widerspräche jedoch der rechtlichen und tatsächlichen Stellung der Prozessbevollmächtigten in den Tatsacheninstanzen, würde man ihre Aufgabe allein in der Beibringung des Tatsachenmaterials sehen. Der Möglichkeit, auf die rechtliche Beurteilung des Gerichts Einfluss zu nehmen, entspricht im Verhältnis zum Mandanten die Pflicht, diese Möglichkeit zu nutzen. Mit Rücksicht auf das auch bei Richtern nur unvollkommene menschliche Erkenntnisvermögen und die niemals auszuschließende Möglichkeit eines Irrtums ist es Pflicht des Rechtsanwalts, nach Kräften dem Aufkommen von Irrtümern und Versehen des Gerichts entgegenzuwirken. Dies entspricht auch dem in § 1 Abs. 3 BORA zum Ausdruck gekommenen Selbstverständnis der Anwaltschaft (BGH NJW 2009, 987 = WM 2009, 324 Rn 8).
[8] b) Im Zivilprozess obliegt die Beibringung des Tatsachenstoffs in erster Linie der Partei. Der für sie tätige Anwalt ist über den Tatsachenvortrag hinaus verpflichtet, den Versuch zu unternehmen, das Gericht davon zu überzeugen, dass und warum seine Rechtsauffassung richtig ist (BGH NJW-RR 1990, 1241, 1242; NJW 1994, 1211, 1213). Daher muss der Rechtsanwalt alles – einschließlich Rechtsausführungen – vorbringen, was die Entscheidung günstig beeinflussen kann (BGH NJW 1974, 1865, 1866). Kann die Klage auf verschiedene rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, ist der Sachvortrag so zu gestalten, dass alle in Betracht kommenden Gründe im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mögl...