GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 398 Abs. 1 § 529 Abs. 1 Nr. 1
Leitsatz
Das BG ist zur erneuten Vernehmung eines Zeugen verpflichtet, wenn es dessen Aussage anders verstehen will als die Vorinstanz.
BGH, Beschl. v. 21.3.2012 – XII ZR 18/11
Sachverhalt
Die Kl. verlangt von der Bekl. zu 1), einer GbR, und deren Gesellschaftern, den Bekl. zu 2) und zu 3) die Zahlung eines Vorschusses für Reparaturen an Gebäuden, die sie an die Bekl. zu 1) vermietet hat. In dem Mietvertrag war vereinbart worden, dass die laufende Instandhaltung einschließlich aller Reparaturen der Bekl. zu 1) obliegen solle. Die Kl. hat behauptet, diese Mietklausel habe nach dem übereinstimmenden Willen der Parteien auch den bei Vertragsschluss bereits bestehenden Reparaturbedarf umfasst. Nach Vernehmung des Zeugen S, der nach Auffassung des LG die Darstellung der Kl. bestätigte, hat das LG der Klage stattgegeben. Das BG verstand die protokollierte Aussage anders und meinte, ihr lasse sich entnehmen, dass die Parteien sich nicht darauf verständigt hätten, dass auch der bei Vertragsschluss bereits bestehende Reparaturbedarf von der Bekl. zu 1) zu decken sei. Ohne erneute Vernehmung des Zeugen würdigte das BG die Aussage des Zeugen abweichend und wies die Klage ab. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kl. führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das BG.
2 Aus den Gründen:
[4] “Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet. Die zugelassene Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das BG (§ 544 Abs. 7 ZPO).
[5] Das BG hat, wie die Kl. zu Recht rügt, deren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise dadurch verletzt, dass es den Zeugen S nicht erneut gehört hat, obwohl es dessen Aussage anders als das LG gewürdigt hat.
[6] a) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das BG grds. an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist eine erneute Beweisaufnahme zwingend geboten. Das gilt insb. für die erneute Vernehmung von Zeugen, die grds. gem. § 398 Abs. 1 ZPO im Ermessen des BG steht. Das BG ist deshalb verpflichtet, einen in erster Instanz vernommenen Zeugen erneut zu vernehmen, wenn es die protokollierte Aussage anders als die Vorinstanz verstehen oder würdigen will (BGH Beschl. v. 21.6.2011 – II ZR 103/10, MDR 2011, 1133 Rn 7; v. 10.11.2010 – IV ZR 122/09, NJW 2011, 1364 Rn 5 f.; v. 14.7.2009 – VIII ZR 3/09, NJW-RR 2009, 1291 Rn 5 f.; BGH Urt. v. 22.5.2002 – VIII ZR 337/00, NJW-RR 2002, 1500). Unterlässt es dies, so verletzt es das rechtliche Gehör der benachteiligten Partei.
[7] Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das BG auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen (d.h. seine Glaubwürdigkeit) noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit (d.h. die Glaubhaftigkeit) seiner Aussage betreffen (BGH Beschl. v. 14.7.2009 – VIII ZR 3/09, NJW-RR 2009, 1291, Rn 5 m.w.N.).
[8] b) Das BG war danach zur erneuten Vernehmung des Zeugen S verpflichtet.
[9] Das LG ist davon ausgegangen, der Zeuge S habe ausdrücklich bestätigt, dass die Vereinbarung in § 7 des Mietvertrages nach dem Willen der vertragsschließenden Parteien auch die Behebung der Schäden, die in dem Gutachten N genannt seien, umfassen sollte. Demgegenüber meint das BG, diese Feststellung werde durch die protokollierte Aussage des Zeugen S nicht getragen. Dessen Aussage spiegele lediglich seine persönliche Einschätzung wider. Sie enthalte keine Tatsachen, aus denen sich ergebe, dass auch die vertragsschließenden Parteien im Zeitpunkt des Vertragsschlusses eine entsprechende übereinstimmende Vorstellung von § 7 des Mietvertrages gehabt hätten. Insb. fehlten nähere Angaben zum Umfang der beklagtenseits übernommenen Reparaturen.
[10] Damit würdigt das BG die Aussage des Zeugen S abweichend vom LG und darüber hinaus auch nur lückenhaft.
[11] Die Schilderung der Vertragsverhandlungen durch den Zeugen hat sich auf das Beweisthema, nämlich darauf, ob die in § 7 des Mietvertrages enthaltene Reparaturklausel auch den in dem Gutachten N festgestellten Reparaturbedarf erfassen sollte, bezogen. Hierzu hat der Zeuge S bekundet, die Parteien seien sich darüber einig gewesen, dass die Reparaturen von der Bekl. zu 1) vorgenommen werden würden und im Gegenzug ein vorübergehender Nachlass vom zunächst angedachten Mietpreis gewährt werde.
[12] Da das BG dieser Aussage abweichend von den Feststellungen des LG nur eine persönliche Einschätzung des Zeugen entnommen hat, war es verpflichtet, den Zeugen S selbst zu vernehmen.
[13] c) Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es ist nicht auszuschließen, dass das BG nach Vernehmung des Zeugen S zu einem anderen Beweisergebnis gelangt wäre.“