Der in der forensischen Praxis sehr bedeutsame Streit um den Zeitpunkt, der der Prognose des Grades der Invalidität eines Unfallversicherten bei der "Erstbemessung" zugrunde zu legen ist, treibt, wie die abgedruckten Entscheidungen zeigen, Blüten. Hintergrund ist eine höchstrichterliche Rspr., die offenbar – auch in ihrer historischen Entwicklung – Irritationen ausgelöst hat. Zu entscheiden ist folgende Frage: Eine versicherte Person hat zu einem Zeitpunkt 1 einen Unfall erlitten, als dessen Folge sie zu x % invalide sein wird. Der VR verneint eine Invalidität oder nimmt eine von y % an und reguliert dementsprechend zu einem Zeitpunkt 2. Der VN hält diese Bemessung für zu niedrig. Es schließt sich ein Rechtsstreit an, in dessen Verlauf sachverständig geklärt werden muss, welches Maß die Invalidität tatsächlich erreicht. Insoweit kommt es darauf an, zu welchem Zeitpunkt die Prognose zu erstellen ist: Kommt es darauf an, welche Prognose zu dem Zeitpunkt 1 + 1 Jahr zu stellen war (weil Anspruchsvoraussetzung regelmäßig ist, dass ein Jahr nach dem Unfall Invalidität eingetreten ist), kommt es darauf an, welche Prognose zum Zeitpunkt 2 zu stellen war, weil es um die Überprüfung der Erstbemessung geht, kommt es auf den Zeitpunkt 1 + 3 Jahre an oder kommt es auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der (welcher?) Tatsacheninstanz an? Das ist deshalb von erheblichem Interesse, weil unfallbedingte gesundheitliche Beeinträchtigungen selten statisch verharren, sondern je nach dem Alter, je nach dem medizinischen Fortschritt, je nach der "Compliance" des Patienten unterschiedlich verlaufen.

Das OLG München hält offenbar den Zeitpunkt der Erstbemessung durch den VR für maßgeblich, also einen in jedem Fall variablen Moment. Das OLG Hamm hält den Zeitpunkt der letzten sachverständigen Untersuchung der versicherten Person jedenfalls in Fällen einer die Erstbemessung angreifenden, nach Ablauf der Dreijahresfrist für die Neubemessung erhobenen Klage für entscheidend. Das OLG Oldenburg sieht es als richtig an, die Prognose zum Ablauf des dritten Jahres nach dem Unfallereignis vorzunehmen, wenn der VR bis dahin keine "Erstbemessung" vorgenommen, sondern lediglich Vorschüsse geleistet hat. Das OLG Düsseldorf (zfs 2013, 701) indessen hat der Rspr. des BGH entnommen, die Prognose müsse auf der Grundlage des der letzten mündlichen Verhandlung zugrunde liegenden Untersuchungszeitpunkts erstellt werden. Das scheint der BGH in seiner Entscheidung v. 1.4.2015 genauso zu sehen, wenn er alle bis zur letzten mündlichen Verhandlung "eingetretenen" Umstände heranzuziehen gebietet.

Die in Bezug genommene frühere Rspr. des BGH lässt sich dafür aber nicht uneingeschränkt, heranziehen: Die Entscheidung v. 21.3.2012 (IV ZR 256/10) hat lediglich unter Bezugnahme auf die Entscheidung v. 16.1.2008 (zfs 2009, 461) bestätigt, dass für die Erstbemessung nicht die Dreijahresfrist gilt, die für die (vorbehaltene) Neubemessung bestimmt ist. Dort ist (obwohl es lediglich um die von vornherein unbegründete Klage auf Feststellung einer Neubemessungspflicht ging) allerdings ausgeführt, der Tatrichter könne "theoretisch" alle bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung eingetretenen (!) Gesundheitsveränderungen in die Erstbemessung einfließen lassen. In einer Entscheidung v. 4.5.1994 (zfs 1994, 334) hat der BGH (zu den AUB 61) demgegenüber ausgeführt, fehle es an einem Neubemessungsverlangen, könne es grundsätzlich nur noch darum gehen, "welchen Grad die unfallbedingte Invalidität innerhalb des ersten Jahres nach dem Unfalltag erreicht" habe. Allerdings könnten die Parteien sich auf einen anderen Bewertungsstichtag (auch konkludent) einigen. Gehe ein VN vor Ablauf der Neubemessungsfrist gegen die Ablehnung von Ansprüchen vor, so werde der Streit insgesamt in dem vor Fristablauf eingeleiteten Rechtsstreit ausgetragen; dann dürften nur Umstände berücksichtigt werden, die bis zum Ablauf der Dreijahresfrist erkennbar geworden seien.

Im Streit um die Erstbemessung alle bis zur letzten mündlichen Verhandlung eingetretenen Umstände der Prognose zugrunde zu legen, begegnet zunächst Wertungswidersprüchen: Ist eine "Erstbemessung" erfolgt und wird um die Neubemessung gestritten, ist unstreitig, dass maßgeblich lediglich die aus dem gesundheitlichen Zustand des Versicherten abzuleitende Prognose zum Ende des dritten Jahres nach dem Unfallereignis ist. Ob wirklich einsichtig ist, dass versicherte Personen, die eine Erstbemessung hinnehmen und sich auf die Möglichkeit einer Neubemessung (bei Verschlechterung ihres Gesundheitszustands) verlassen, signifikant schlechter gestellt werden als solche, die schon über die "Erstbemessung" streiten, liegt nicht auf der Hand. Ähnliches gilt, wenn eine Erstbemessung und eine Neubemessung erfolgt sind und der VN mit seinem VR über beide streitet: Wie soll dann der gordische Knoten zerschlagen werden? Es kann nicht sein, dass die Neubemessung auf das Ende des dritten Nachunfalljahres abstellt, die Erstbemessung aber auf eine...

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