StVG § 717; StVO § 1 Abs. 2 § 9 Abs. 5; VVG § 115; ZPO § 286
Leitsatz
Die für die Anwendung eines Anscheinsbeweises gegen einen Rückwärtsfahrenden erforderliche Typizität des Geschehensablaufs liegt regelmäßig nicht vor, wenn beim rückwärtigen Ausparken von zwei Fahrzeugen aus Parkbuchten eines Parkplatzes zwar feststeht, dass vor der Kollision ein Fahrzeugführer rückwärts gefahren ist, aber nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein Fahrzeug im Kollisionszeitpunkt bereits stand, als der andere – rückwärtsfahrende – Unfallbeteiligte mit seinem Fahrzeug in das Fahrzeug hineingefahren ist.
BGH, Urt. v. 15.12.2015 – VI ZR 6/15
Sachverhalt
Der Kl. parkte mit seinem Kfz rückwärts aus einer Parkbucht aus. Er stieß mit seinem Fahrzeug mit einem aus einer gegenüberliegenden Parkbucht rückwärts ausparkenden Kfz zusammen. Die Haftpflichtversicherung des Bekl. regulierte unter Zugrundelegung eines gegen den Kl. sprechenden Anscheinsbeweises für eine unfallursächliche Mitverantwortung 50 % der Schadenspositionen des Kl. Der Kl. hat behauptet, sein Fahrzeug habe bereits gestanden, als der Bekl. mit seinem Fahrzeug in das des Kl. hineingefahren sei. Die Bekl. haben behauptet, beide Fahrzeuge hätten sich im Zeitpunkt des Zusammenstoßes in Bewegung befunden.
Das AG hat die Klage auf Zahlung in Höhe weiterer 50 % der Schadenspositionen des Kl. abgewiesen. Das BG, das die Revision zugelassen hat, hat die Berufung des Kl. zurückgewiesen.
Die Revision des Kl. führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung.
2 Aus den Gründen:
[7] "… Das angefochtene Urteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Entgegen der Auffassung des BG streitet nach den bisherigen Feststellungen ein Anscheinsbeweis nicht für ein (Mit-)Verschulden des Kl. Nicht frei von Rechtsfehlern sind auch die Ausführungen zur Schätzung des Wiederbeschaffungsaufwands des klägerischen Fahrzeugs."
[8] 1. Die Revision ist unbeschränkt zulässig. Die Entscheidungsformel des Berufungsurteils enthält keinen Zusatz, der die dort ausgesprochene Zulassung der Revision einschränkt. Eine Beschränkung der Revisionszulassung ergibt sich auch nicht aus der vom BG genannten Begründung der Zulassung, eine Vereinheitlichung der Rspr. zur Haftungsverteilung bei Unfällen zwischen rückwärts ausparkenden Pkw zu ermöglichen. Eine Beschränkung der Revisionszulassung ist nur im Hinblick auf einen tatsächlich und rechtlich selbstständigen Teil des Streitgegenstands zulässig, nicht aber auf einzelne Rechtsfragen (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015 – IV ZR 526/14, WM 2015, 2292 Rn 13; Beschl. v. 10.2.2011 – VII ZR 71/10, NJW 2011, 1228 Rn 11 m.w.N.). Hier ergibt sich eine Beschränkung auf den Haftungsgrund nicht eindeutig aus der Benennung des Zulassungsgrundes, zumal die angesprochene Rechtsfrage nach der Begründung des Berufungsurteils auch für den Ersatz der im Revisionsrechtszug von den Bekl. anerkannten Kosten des Ergänzungsgutachtens erheblich sein konnte.
[9] 2. Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist der Ausgangspunkt des BG, wonach sowohl der Kl. als auch die Bekl. grds. für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem. § 7 Abs. 1 StVG, § 115 Abs. 1 VVG einzustehen haben, weil die Unfallschäden beim Betrieb von Kfz entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellte.
[10] 3. Im Rahmen der hiernach gem. § 17 Abs. 1, 2 StVG gebotenen Abwägung der beiderseitigen Mitverursachungs- und Verschuldensanteile hat das BG jedoch rechtsfehlerhaft angenommen, dass der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Kl. spricht, obwohl nicht auszuschließen ist, dass das Fahrzeug des Kl. im Zeitpunkt der Kollision bereits stand.
[11] a) Die Regeln der Straßenverkehrsordnung (StVO) sind auf dem – hier vorliegenden – öffentlich zugänglichen Parkplatz grds. anwendbar (vgl. BGH, Urt. v. 4.3.2004 – 4 StR 377/03, BGSt 49, 128; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., § 1 StVO Rn 15). Teilweise wird hieraus gefolgert, § 9 Abs. 5 StVO, wonach sich der Fahrzeugführer beim Rückwärtsfahren so verhalten muss, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist, und er sich erforderlichenfalls einweisen lassen muss, sei auch auf Parkplätzen unmittelbar anwendbar (vgl. LG Bad Kreuznach zfs 2007, 559; LG Bochum, Beschl. v. 21.1.2009 – 10 S 107/08, juris Rn 5; LG Kleve, Urt. v. 11.11.2009 – 5 S 88/09, juris Rn 13; AG Herne, Urt. v. 17.2.2010 – 20 C 389/09, juris Rn 15). Die wohl überwiegende Auffassung stellt indes darauf ab, dass die Vorschrift primär dem Schutz des fließenden und deshalb typischerweise schnelleren Verkehrs dient und mithin bei einem Parkplatzunfall nicht unmittelbar anwendbar ist (vgl. OLG Koblenz DAR 2000, 84; OLG Stuttgart NJW 2004, 2255, 2256; OLG Jena NZV 2005, 432; OLG Dresden NZV 2007, 152; OLG Saarbrücken NJW-RR 2015, 223 Rn 29 ff.; LG Saarbrücken NJW-RR 2013, 541 f.; DAR 2013, 520, 521; NJW-RR 2014, 1310; König, a.a.O., § 8 StVO Rn 31a m.w.N.). Auf Parkpl...