StVG § 17; StVO § 1 § 9 Abs. 5
Leitsatz
1. Die Vorschrift des § 9 Abs. 5 StVO ist auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter nicht unmittelbar anwendbar. Mittelbare Bedeutung erlangt sie aber über § 1 StVO.
2. Entsprechend der Wertung des § 9 Abs. 5 StVO muss sich auch derjenige, der auf einem Parkplatz rückwärts fährt, so verhalten, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort anhalten kann.
3. Kollidiert der Rückwärtsfahrende mit einem anderen Fahrzeug, so können zugunsten desjenigen, der sich auf ein unfallursächliches Verschulden des Rückwärtsfahrenden beruft, die Grundsätze des Anscheinsbeweises zur Anwendung kommen. Steht fest, dass sich die Kollision beim Rückwärtsfahren ereignete, der Rückwärtsfahrende zum Kollisionszeitpunkt selbst also noch nicht stand, so spricht auch bei Parkplatzunfällen ein allgemeiner Erfahrungssatz dafür, dass der Rückwärtsfahrende der dargestellten Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist und den Unfall dadurch (mit)verursacht hat.
BGH, Urt. v. 26.1.2016 – VI ZR 179/15
Sachverhalt
Die Fahrzeuge der Parteien stießen auf einem Kundenparkplatz miteinander zusammen. Beim wiederholten Versuch in eine Parklücke einzufahren, stieß der Bekl. mit seinem Pkw mit dem Pkw des quer hinter dem Fahrzeug des Bekl. stehenden Pkw des Kl. zusammen. Die Bekl. zu 2, die Haftpflichtversicherung des Bekl. zu 1, regulierte unter Annahme einer Mithaftung des Kl. von 40 % 60 % des Schadens an dem Fahrzeug des Kl. Der Kl. machte den nicht regulierten Schaden an seinem Fahrzeug geltend. Klage und Berufung blieben erfolglos. Die zugelassene Revision des Kl. führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung an das BG.
2 Aus den Gründen:
[9] "… 1. Mit den Erwägungen des BG lässt sich ein Anspruch der Kl. auf weiteren Schadensersatz nicht verneinen. Mit Erfolg beanstandet die Revision die Ausführungen des BG zur Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verantwortungsbeiträge nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG."
[10] a) Grundsätzlich ist die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG – wie im Rahmen des § 254 BGB – Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (Senatsurt. v. 27.5.2014 – DAR 2014, 257 Rn 18; vom 7.2.2012 – DAR 2012, 201 Rn 5 m.w.N.). Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (Senatsurt. v. 27.5.2014, a.a.O., m.w.N.; vom 7.2.2012, a.a.O., m.w.N.). Einer Überprüfung nach diesen Grundsätzen hält die vom BG vorgenommene Abwägung nicht stand. Auf der Grundlage des im Revisionsverfahren maßgeblichen Sachverhalts kann nicht ausgeschlossen werden, dass in die Abwägung zu Lasten der Bekl. ein Verschulden der Bekl. zu 1 hätte eingestellt werden müssen.
[11] b) Im Ausgangspunkt zutreffend geht das BG freilich davon aus, dass ein solches Verschulden nicht aus einem Verstoß der Bekl. unmittelbar gegen § 9 Abs. 5 StVO hergeleitet werden kann. Die Vorschrift ist auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter nicht unmittelbar anwendbar (Senatsurt. v. 15.12.2015 – DAR 2016, 197 m. Anm. Engel, Rn 11). Mittelbare Bedeutung erlangt § 9 Abs. 5 StVO aber über § 1 StVO. Entsprechend der Wertung des § 9 Abs. 5 StVO muss sich auch derjenige, der auf einem Parkplatz rückwärts fährt, so verhalten, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort anhalten kann (Senat a.a.O.). Kollidiert der Rückwärtsfahrende mit einem anderen Fahrzeug, so können zugunsten desjenigen, der sich auf ein unfallursächliches Verschulden des Rückwärtsfahrenden beruft, die Grundsätze des Anscheinsbeweises zur Anwendung kommen. Steht fest, dass sich die Kollision beim Rückwärtsfahren ereignete, der Rückwärtsfahrende zum Kollisionszeitpunkt selbst also noch nicht stand, so spricht auch bei Parkplatzunfällen ein allgemeiner Erfahrungssatz dafür, dass der Rückwärtsfahrende der dargestellten Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist und den Unfall dadurch (mit)verursacht hat (vgl. Senat a.a.O., Rn 14 f.).
[12] c) Nach diesen – vom erkennenden Senat erst nach Erlass des Berufungsurteils entwickelten – Grundsätzen hätte, was der Senat im Revisionsverfahren überprüfen darf (z.B. Senatsurt. v. 26.3.2013 – VersR 2013, 1000 Rn 27; vom 16.3.2010 – VersR 2010, 627 Rn 16 m.w.N.), auf der Grundlage des revisionsrechtlich maßgeblichen Sachverhalts davon ausgegangen werden müssen, dass der Beweis des ersten Anscheins für ein unfallursächliches Verschulden der Bekl. zu 1 spricht. Denn die Kl. hat ausweislich der tatbestandlichen Feststellungen des Berufungsurteils vorgetragen, die aus der Parklücke rückwärts (wieder) ausfahrende Bekl. zu 1 sei auf das im Kollis...