StPO § 147; EMRK Art. 6; OWiG § 73
Leitsatz
1. Ausfluss des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) ist es, dass dem Betr. auf seinen Antrag hin auch nicht bei den Akten befindliche amtliche Unterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt, zur Verfügung zu stellen sind. Dazu gehört in Verkehrsordnungswidrigkeitensachen auch die Bedienungsanleitung des verwendeten Messgeräts.
2. Zu den Auswirkungen der Verlegung des Hauptverhandlungstermins auf die Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen.
3. Liegt der Gehörverstoß im Übergehen prozessual erheblichen Vorbringens (hier: Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung), setzt die Zulässigkeit der Verfahrensrüge keinen Vortrag dazu voraus, welches sachlich-rechtliche Vorbringen infolge der Einspruchsverwerfung unberücksichtigt geblieben ist.
(Leitsätze der Schriftleitung)
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 12.1.2018 – 2 Rb 8 Ss 839/17
Sachverhalt
Gegen den Betr. erging wegen Abstandsunterschreitung ein Bußgeld in Höhe von 180 EUR. Auf den Einspruch wurde Termin für die Hauptverhandlung bestimmt und der Betr. wurde auf seinen Antrag hin von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen "zum Termin am 25.7.2017" entbunden. Danach wurde der Termin zwei Mal, zuletzt auf den 25.9.2017 verlegt. In einem am 22.9.2017 eingereichten Schriftsatz äußerte die Verteidigerin die Auffassung, dass die Entbindung von der Verpflichtung des Betr. zum persönlichen Erscheinen auch für den neu anberaumten Termin gelte, und bat anderenfalls um erneute Beschlussfassung. Mit weiterem am 25.9.2017 um 7:20 Uhr beim AG eingekommenem Schriftsatz beantragte die Verteidigerin, die zuvor mit Schriftsätzen vom 7.7.2017 und vom 22.9.2017 beantragt hatte, ihr Einsicht in die Bedienungsanleitung des verwendeten Messgerätes zu gewähren, die Aussetzung der Hauptverhandlung im Hinblick auf die bis dahin noch nicht gewährte Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung.
Das AG verwarf den Einspruch des Betr. gem. § 74 Abs. 2 OWiG. Das OLG Karlsruhe hat die Rechtsbeschwerde des Betr. zugelassen, das Urteil des AG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.
2 Aus den Gründen:
"… II. Die Rechtsbeschwerde des Betr. ist zuzulassen, weil es geboten ist, das angefochtene Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG)."
1. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet die Gerichte, entscheidungserhebliches Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei der Entscheidung zu berücksichtigen (BVerfGE 22, 267, 274; BGH NStZ-RR 2003, 49; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Rn 67, 94 ff.). Im Verfahren über die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist eine Verletzung dieses Anspruchs mit der Verfahrensrüge geltend zu machen (st. Rspr. des Senats, zuletzt etwa Beschl. v. 5.7.2017 – 2 Rb 10 Ss 407/17; Seitz/Bauer, in: Göhler, OWiG, 17. Aufl., § 16a m.w.N.). Der dazu erforderliche Tatsachenvortrag (§§ 79 Abs. 3 S. 1, 80 Abs. 3 S. 3 OWiG, 344 Abs. 2 S. 2 StPO) muss das Rechtsbeschwerdegericht in die Lage versetzen, das Vorliegen des behaupteten Rechtsverstoßes ohne Rückgriff auf andere Unterlagen zu prüfen (st. Rspr. des BGH, zuletzt Beschl. v. 4.10.2017 – 3 StR 145/17, Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 344 Rn 21 m.w.N.). Bei der Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist deshalb auch Vortrag zu der Entscheidungserheblichkeit des vom Gericht übergangenen Vortrags erforderlich. Es muss deshalb grds. dargelegt werden, welcher Sachvortrag gem. § 74 Abs. 1 S. 2 OWiG in die Hauptverhandlung einzuführen gewesen wäre und infolge der Verwerfung des Einspruchs unberücksichtigt geblieben ist (OLG Düsseldorf VRS 120, 343; OLG Brandenburg VRS 127, 38; a.A. OLG Oldenburg NStZ-RR 2011, 383). Beruft sich der Betr. darauf, dass ihm aufgrund verwehrter Einsichtnahme in bestimmte Unterlagen – hier die Bedienungsanleitung des Messgeräts – entsprechender Vortrag nicht möglich ist, muss er sich, damit die Ausnahme von der an sich nach § 344 Abs. 2 S. 2 StPO bestehenden Vortragsfrist gerechtfertigt und belegt wird, nach der in der obergerichtlichen Rechtsprechung überwiegend vertretenen Auffassung (OLG Celle VRS 124, 333; NStZ 2014, 526; OLG Celle, Beschl. v. 21.4.2016 – 2 Ss (OWi) 82/16; OLG Braunschweig NStZ-RR 2014, 354; OLG Hamm, Beschl. v. 14.11.2012 – III-1 RBs 105/12; a.A. OLG Jena NJW 2016, 1457) jedenfalls bis zum Ablauf der Frist zur Erhebung der Verfahrensrüge weiter um die Unterlagen bemühen und die entsprechenden Anstrengungen gegenüber dem Rechtsbeschwerdegericht auch dartun.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör kann allerdings auch dadurch verletzt werden, dass das Gericht prozessual erhebliches Vorbringen übergeht, bei dessen Berücksichtigung die getroffene Entscheidung nicht hätte ergehen dürfen (OLG Dresden NZV 2013, 613 – Nichtbescheidung eines Antrags auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen; KG NStZ 2011, 584; OLG Brandenburg NZV 2003, 432; OLG Köln VRS 96, 451 – jeweils zur Nichtberücksichtigung von Entschuldigungsvorbringen). Da es in dies...