StVG § 17 Abs. 1; StVO § 8 Abs. 1
Leitsatz
Der Benutzer einer bevorrechtigten Straße ist gegenüber Verkehrsteilnehmern, die auf einer einmündenden oder die Vorfahrtsstraße kreuzenden, nicht bevorrechtigten Straße herankommen, so lange vorfahrtsberechtigt, bis er die Vorfahrtsstraße mit der ganzen Länge seines Fahrzeugs verlassen hat.
BGH, Urt. v. 27.5.2014 – VI ZR 279/13
Sachverhalt
Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall zwischen einem Bus und einem Pkw. Die Kl. ist Halterin und Eigentümerin des von dem Drittwiderbeklagten gefahrenen Busses. Der Bekl. zu 1) ist Fahrer und Halter des bei der Bekl. zu 2) haftpflichtversicherten Pkw. Der Drittwiderbeklagte befuhr zum Unfallzeitpunkt die vorfahrtsberechtigte T-Straße. Der Bekl. zu 1) befuhr die untergeordnete S-Straße und wollte an der Einmündung zur T-Straße in diese nach links abbiegen. Aus Sicht des Drittwiderbeklagten befindet sich unmittelbar nach der S-Straße parallel zur vorfahrtsberechtigten T-Straße eine Bushaltestelle. Um diese anzufahren, überfuhr der Drittwiderbeklagte mit dem Bus geringfügig die seinen Fahrstreifen begrenzende unterbrochene Linie zur S-Straße. Dabei kollidierte der Bus mit dem an die Vorfahrtsstraße heranfahrenden Pkw des Bekl. zu 1).
Das LG hat der Klage stattgegeben und die Widerklage der Bekl. zu 1) abgewiesen. Mit der Berufung haben die Bekl. einen Haftungsanteil von 25 % anerkannt und der Bekl. zu 1) die Widerklageforderung auf 75 % begrenzt. Das OLG hat die Berufung der Bekl. zurückgewiesen. Mit der vom BG zugelassenen Revision verfolgen die Bekl. ihre im Berufungsverfahren gestellten Anträge weiter.
Die Revision hatte lediglich bezüglich des Anspruchs auf Ersatz der außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren teilweisen Erfolg.
2 Aus den Gründen:
[9] "… 1. Entgegen der Auffassung der Revisionen hat das BG mit Recht ein Vorfahrtsrecht des Busses angenommen, auch wenn dieser die als Fahrbahnbegrenzung dienende unterbrochene Linie überfuhr, um die Haltestelle zu erreichen."
[10] a) Gem. § 8 Abs. 1 S. 1 StVO in der hier maßgeblichen Fassung v. 22.3.1988 hat an Kreuzungen und einer – hier vorliegenden – Einmündung Vorfahrt, wer von rechts kommt. Das gilt nicht, wenn die Vorfahrt – wie hier durch das Zeichen 205 – besonders geregelt ist (§ 8 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StVO). Wer die Vorfahrt zu beachten hat, muss rechtzeitig durch sein Fahrverhalten, insb. durch mäßige Geschwindigkeit, erkennen lassen, dass er warten wird. Er darf nur weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass er den, der die Vorfahrt hat, weder gefährdet noch wesentlich behindert (§ 8 Abs. 2 S. 1, 2 StVO a.F.).
[11] Die gesetzliche Vorfahrtsregelung soll den zügigen Verkehr auf bevorrechtigten Straßen gewährleisten und damit durch klare und sichere Verkehrsregeln auch der Sicherheit des Straßenverkehrs dienen (vgl. Senat, Urt. v. 9.3.1971 – VI ZR 137/69, BGHZ 56, 1, 4; BGH, Urt. v. 9.7.1965 – 4 StR 282/65, BGHSt 20, 238, 240; v. 15.7.1986 – 4 StR 192/86, BGHSt 34, 127, 130). Das Vorfahrtsrecht erstreckt sich auf die gesamte Fläche der Kreuzung oder des Einmündungsbereichs. Der Vorfahrtsbereich wird bei rechtwinklig einmündenden Straßen und bei rechtwinkligen Straßenkreuzungen von den Fluchtlinien der Fahrbahnen beider Straßen gebildet. Bei einer trichterförmig erweiterten Einmündung erstreckt sich die Vorfahrt nicht nur auf das durch die Fluchtlinie der Fahrbahnen beider Seiten gebildete Einmündungsviereck, sondern umfasst auch die ganze, bis zu den Endpunkten des Trichters erweiterte bevorrechtigte Fahrbahn (vgl. Senat, Urt. v. 16.11.1962 – VI ZR 19/62, VersR 1963, 279; v. 9.3.1971 – VI ZR 137/69, a.a.O., 4 ff.; v. 7.6.1983 – VI ZR 83/81, VersR 1983, 837, 838; BGH, Urt. v. 9.7.1965 – 4 StR 282/65, a.a.O. m.w.N.).
[12] Nach dieser Rspr. hat der Fahrer, der dem Verlauf einer nach links abknickenden Vorfahrtsstraße nicht folgt, sondern geradeaus weiterfährt, in dem gesamten Kreuzungsbereich die Vorfahrt gegenüber dem von rechts kommenden Verkehr (Senat, Urt. v. 9.3.1971 – VI ZR 137/69, a.a.O.; v. 7.6.1983 – VI ZR 83/81, a.a.O.). Eine Markierung des Verlaufs des bevorrechtigten Straßenzugs auf der Kreuzung durch eine rechtsseitig verlaufende bogenförmige unterbrochene weiße Linie ändert nichts am Umfang der Vorfahrtsberechtigung. Vielmehr beschränkt sich die Bedeutung der Markierung darauf, den Verkehrsteilnehmern zur Erleichterung der Orientierung den Verlauf des bevorrechtigten Straßenzuges anzuzeigen (Senat, Urt. v. 7.6.1983 – VI ZR 83/81, a.a.O.; OLGR Hamm 1996, 170, 171). Der Benutzer einer bevorrechtigten Straße ist gegenüber den Verkehrsteilnehmern, die auf einer einmündenden oder die Vorfahrtsstraße kreuzenden nicht bevorrechtigten Straße herankommen, auch dann vorfahrtsberechtigt, wenn er in diese Straße einbiegt, und zwar so lange, bis er die Vorfahrtsstraße mit der ganzen Länge seines Fahrzeugs verlassen hat (vgl. BGH, Urt. v. 7.1.1959 – 4 StR 313/58, BGHSt 12, 320, 323; OLG Düsseldorf, VersR 1966, 1056; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Aufl., § 8 StVO ...