I. Allgemeines
Bußgeldbewehrt sind gem. § 49 Abs. 4 Nr. 1–2 StVO i.V.m. § 24 StVG Verstöße gegen § 35 Abs. 6 S. 1–4 und § 35 Abs. 8 StVO, wobei Fälle wegen widerrechtlicher Reinigung der Gehwege oder wegen fehlenden Tragens von Warnkleidung für das Verkehrsrecht weniger bedeutsam sind. Hingewiesen werden kann allerdings auf eine jüngere Entscheidung zur Einstufung von Schrottsammlern als Fahrzeugen im Sinne der Norm: "Fahrzeuge, die der Müllabfuhr dienen" i.S.v. § 52 Abs. 4 Nr. 1 StVZO und § 35 Abs. 6 StVO sind nur die zur Abfallentsorgung eingesetzten Fahrzeuge der öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger oder Dritter, denen die Abfallentsorgungsverpflichtung des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers übertragen worden ist.
Relevant sind verkehrsordnungswidrigkeitenrechtlich wie auch im zivilrechtlichen Bereich vor allem Verstöße von echten oder vermeintlichen Sonderrechtsinhabern bei der Erfüllung hoheitlicher Aufgaben oder auf dem Weg dorthin oder von dort zurück. Dabei darf ausweislich des Wortlauts der Norm das Sonderrecht nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden, siehe oben A. II. 2.
Werden Sonderrechte zu Unrecht in Anspruch genommen, muss dieses Verhalten nach dem Verstoß gegen die konkret einschlägige Norm bemessen werden, auch weil § 35 Abs. 1 StVO keinen eigenständigen Bußgeldtatbestand beinhaltet.
Wer die Sonderrechte des § 35 StVO jedoch in zulässiger Weise für sich in Anspruch nimmt, muss dann noch die Vorgaben des § 35 Abs. 8 StVO einhalten. Um die in Abs. 8 verlangte Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung prüfen zu können, muss für die Bußgeldbehörde bzw. den Bußgeldrichter zunächst feststehen, ob das Fahrzeug in den Kreis der Sonderrechtsträger fällt, ob es eine vorrangige dringende öffentliche Aufgabe erfüllt hat und ob das Sonderrecht ggf. zu fremder Gefährdung berechtigte. Ist dies der Fall, kann lediglich eine Nachprüfung der durch den Sonderrechtsnutzer getroffenen Ermessensentscheidung erfolgen: "Dringend geboten" i.S.d. § 35 Abs. 1 StVO räumt dem Fahrer eines Sonderrechtsfahrzeugs – wie dargestellt – einen Beurteilungsspielraum ein, innerhalb dessen er sein Handeln als zur Erfüllung seiner dienstlichen Aufgabe geboten werten darf. Nur wenn er die Grenzen dieses Spielraumes überschreitet oder in einem dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Umfange davon Gebrauch macht, fällt das Vorrecht weg. Daher müssen die Urteilsgründe die tatsächlichen Umstände, die seiner Entscheidung zugrunde lagen, erkennen lassen. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass § 35 Abs. 1 StVO den Handelnden ohne Einschränkung "von den Vorschriften dieser Verordnung" befreit. Das verkehrswidrige Verhalten z.B. eines Beamten, der berechtigt sein Sonderrecht in Anspruch nimmt, aber die öffentliche Sicherheit und Ordnung gebührend berücksichtigt, beurteilt sich daher – auch im Falle einer Gefährdung oder Schädigung anderer – allein nach §§ 35 Abs. 8, 49 Abs. 4 Nr. 2 StVO.
Anhand dieser grundlegenden Unterscheidung werden auch die beiden Fallgruppen klar, mit denen sich ein Verteidiger bspw. zu befassen hat: (1) den vermeintlich ein Sonderrecht behauptenden Mandanten und (2) den tatsächlichen Sonderrechtsinhaber, der möglicherweise seinen Beurteilungsspielraum überschritten hat.
II. Fallgruppe (1)
Als Paradefall wird sogar in Lehrbüchern die Konstellation benannt, dass ein die Geschwindigkeit überschreitender Polizeibeamter (privat) gemessen wird und nun das Bußgeld oder sogar das Fahrverbot dadurch umgehen möchte, dass er eine Sonderrechtskonstellation i.S.d. § 35 StVO behauptet. Zwar entfällt für einen Polizeibeamten das Vorrecht des § 35 StVO nicht nur deshalb, weil er sich gerade nicht im Dienst befindet. Die Polizei handelt im Einsatz bzw. hoheitlich auch dann, wenn sie in zivil agiert oder keinen besonderen Einsatzbefehl hat. Die Geschwindigkeitsüberschreitung eines Polizeibeamten im privaten Pkw zum Zwecke der Verfolgung eines verdächtigen Straftäters ist etwa gerechtfertigt, wenn unter Berücksichtigung der Gesamtumstände die sofortige Diensterfüllung wichtiger erscheint als die Beachtung der Verkehrsregeln. Auch für zulässig erachtet wird in engen Grenzen eine eigene Geschwindigkeitsüberschreitung zum Zweck der Kontrolle der Geschwindigkeit.
Der Betroffene muss deshalb vor der Behörde bzw. vor Gericht dartun, dass er sich in einer Situation befand, in der er – trotz privater Fahrt – Hoheitsrechte in Anspruch nehmen musste und dabei zulässigerweise gegen Verkehrsregeln verstoßen hat. Hierbei sind mehrere...