BGB § 254
Leitsatz
Der Schadensersatzanspruch eines Radfahrers, der im Straßenverkehr bei einem Verkehrsunfall Kopfverletzungen erlitten hat, die durch das Tragen eines Schutzhelms zwar nicht verhindert, wohl aber hätten gemildert werden können, ist jedenfalls bei Unfallereignissen bis zum Jahr 2011 grds. nicht wegen Mitverschuldens gem. § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB gemindert.
BGH, Urt. v. 17.6.2014 – VI ZR 281/13
Sachverhalt
Die Kl. fordert Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall, den sie als Radfahrerin erlitten hat. Auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle fuhr sie an dem geparkten Pkw des Bekl. zu 1), der bei der Bekl. zu 2) haftpflichtversichert ist, vorbei. Die Bekl. zu 1) öffnete unmittelbar vor der sich nähernden Kl. die Fahrertür. Die Kl. konnte nicht mehr ausweichen. Sie prallte gegen die Autotür, stürzte und zog sich schwere Hirn- und Schädelverletzungen zu. Die Bekl., die ihre Alleinverursachung des Unfalls zugestanden hat, hat ein Mitverschulden der Kl. an den eingetretenen Unfallfolgen darin gesehen, dass die Kl. keinen Schutzhelm getragen habe.
Das LG hat der Feststellungsklage der Kl. stattgegeben. Wegen der Berufungsentscheidung des OLG wird auf das Urteil des OLG Schleswig v. 5.6.2013 (veröffentlicht in zfs 2014, 258) verwiesen.
Die Revision gegen das Urteil des OLG Schleswig hatte Erfolg.
2 Aus den Gründen:
[5] "… Die Revision hat Erfolg. Die Auffassung des BG, die Ansprüche der Kl. auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens gem. §§ 7, 18 StVG – bzgl. der Bekl. zu 2) i.V.m. § 115 VVG – seien wegen Mitverschuldens gem. § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB gemindert, weil die Kl. keinen Fahrradhelm getragen habe, hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand."
[6] 1. Die Entscheidung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 254 BGB ist allerdings grds. Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob dieser alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt hat (vgl. Senatsurt. v. 12.7.1988 – VI ZR 283/87, VersR 1988, 1238, 1239; v. 5.3.2002 – VI ZR 398/00, VersR 2002, 613, 615 f.; v. 25.3.2003 – VI ZR 161/02, VersR 2003, 783, 785 f., und v. 28.2.2012 – VI ZR 10/11, VersR 2012, 772, Rn 6, jeweils m.w.N.; BGH, Urt. v. 20.7.1999 – X ZR 139/96, NJW 2000, 217, 219, und v. 14.9.1999 – X ZR 89/97, NJW 2000, 280, 281 f.). In erster Linie ist hierbei nach der st. Rspr. des BGH das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben (Senatsurt. v. 20.9.2011 – VI ZR 282/10, VersR 2011, 1540 Rn 14 m.w.N.). Nach den vom BG getroffenen und von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen war das Nichttragen eines Fahrradhelms ursächlich für das Ausmaß der von der Kl. erlittenen Kopfverletzungen. Ein Helm hätte das bei dem Sturz erlittene Schädel-Hirn-Trauma zwar nicht verhindern können. Ein Helm habe aber die Funktion einer Knautschzone, welche die stumpf einwirkenden Energien absorbiere. Die Kraft des Aufpralls werde auf eine größere Fläche verteilt und dadurch abgemildert. Im vorliegenden Fall hätte ein Fahrradhelm die Verletzungsfolgen deshalb zumindest in einem gewissen Umfang verringern können.
[7] 2. Die durch das Nichttragen eines Fahrradhelms begründete objektive Mitverursachung hinsichtlich des Ausmaßes der von der Kl. erlittenen Verletzungen führt entgegen der Auffassung des BG jedoch nicht zu einer Anspruchskürzung gem. § 254 Abs. 1 BGB.
[8] a) Der Vorschrift des § 254 BGB liegt der allgemeine Rechtsgedanke zugrunde, dass der Geschädigte für jeden Schaden mitverantwortlich ist, bei dessen Entstehung er in zurechenbarer Weise mitgewirkt hat (vgl. BGH, Urt. v. 18.4.1997 – V ZR 28/96, BGHZ 135, 235, 240 m.w.N.). § 254 BGB ist eine Ausprägung des in § 242 BGB festgelegten Grundsatzes von Treu und Glauben (Senatsurt. v. 14.3.1961 – VI ZR 189/59, BGHZ 34, 355, 363 f., und v. 22.9.1981 – VI ZR 144/79, VersR 1981, 1178, 1179 m.w.N.). Da die Rechtsordnung eine Selbstgefährdung und Selbstbeschädigung nicht verbietet, geht es im Rahmen von § 254 BGB nicht um eine rechtswidrige Verletzung einer gegenüber einem anderen oder gegenüber der Allgemeinheit bestehenden Rechtspflicht, sondern nur um einen Verstoß gegen Gebote der eigenen Interessenwahrnehmung, also um die Verletzung einer sich selbst gegenüber bestehenden Obliegenheit (vgl. Senatsurt. v. 17.11.2009 – VI ZR 58/08, VersR 2010, 270 Rn 16 m.w.N.; BGH, Urt. v. 14.10.1971 – VII ZR 313/69, BGHZ 57, 137, 145; v. 18.4.1997 – V ZR 28/96, a.a.O., und v. 29.4.1999 – I ZR 70/97, VersR 2000, 474). Die vom Gesetz vorgesehene Möglichkeit der Anspruchsminderung des Geschädigten beruht auf der Überlegung, dass jemand, der diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die nach Lage der Sache erforderlich erscheint, um sich selbst vor Schaden zu bewahren, auch den Verlust oder die Kürzung seiner Ansprüche hinnehmen muss (vgl. Senatsurt. v. 29.4.1953 – VI ZR 63/52, BGHZ 9, 316, 318 f.), weil es im Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem unbillig erscheint...