StGB § 44 § 229
Leitsatz
1. Ein Mitverschulden des Unfallgegners ist nur dann geeignet, die Vorhersehbarkeit eines Unfalls für den Täter einer fahrlässigen Körperverletzung auszuschließen, wenn es in einem gänzlich vernunftwidrigen oder außerhalb der Lebenserfahrung liegenden Verhalten besteht (vgl. BGHSt 12, 75 [78]; KG Berlin, Beschl. v. 30.5.2012, (3) 121 Ss 95/12 (68/12) – n.v.; RGSt 73, 370 [372]).
2. Liegen zwischen Tat und Urteil 16 Monate, ist dies kein derart langer Zeitraum, dass die Warn- und Besinnungsfunktion des Fahrverbots nicht mehr erreicht werden könnte. (vgl. KG Berlin, Beschl. v. 25.7.2011 – (3) 1 Ss 119/11 (42/11) – n.v.).
KG, Beschl. v. 4.3.2014 – (3) 121 Ss 27/14 (21/14)
1 Aus den Gründen:
"Die Revision des Angekl. gegen das Urteil des LG Berlin wird nach § 349 Absatz 2 StPO verworfen. Der Angekl. hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen."
Ergänzend bemerkt der Senat:
Es kann dahinstehen, ob dem Zeugen Dr. B. wegen unzulässigen Überholens bei unklarer Verkehrslage gem. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO ein Mitverschulden vorzuwerfen ist (vgl. dazu: KG DAR 2002, 557 f.; VRS 106, 173 [175]; NJW-RR 1987, 1251 f.; OLG Koblenz NZV 2005, 413 [414]; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht 42. Auflage, § 5 StVO Rn 34 und 35 m.w.N.), da dem Angekl. der Verkehrsunfall und die damit einhergehenden Verletzungen des Zeugen auf jeden Fall zuzurechnen sind. Ein Mitverschulden des Unfallgegners ist nur dann geeignet, die Vorhersehbarkeit eines Unfalls für den Täter auszuschließen, wenn es in einem gänzlich vernunftwidrigen oder außerhalb der Lebenserfahrung liegenden Verhalten besteht (vgl. BGHSt 12, 75 [78]; Senat, Beschl. v. 30.5.2012 – (3) 121 Ss 95/12 (68/12); RGSt 73, 370 [372]). Dies ist hier nicht der Fall, da der Angekl. damit rechnen musste, dass er von nachfolgenden Kfz überholt wird.
Ein etwaiges Mitverschulden des Zeugen Dr. B. war auch für die Bestimmung der Strafe unerheblich. Angesichts der einschlägigen Vorstrafen des Angekl. und des Umstands, dass das LG aufgrund des Verschlechterungsverbots keine höhere Strafe ausgeurteilt hat, kann das Urteil auf einer Nichtberücksichtigung eines Mitverschuldens des Zeugen Dr. B. nicht beruhen (vgl. Senat, Beschl. v. 30.5.2012 a.a.O.).
Vor diesem Hintergrund rechtfertigt auch der Umstand, dass der Angekl. seit der hier in Rede stehenden Tat am 19.6.2012 beanstandungsfrei am Straßenverkehr teilgenommen hat, das Absehen von der Verhängung eines einmonatigen Fahrverbots nicht. Zwischen Tat und Urteil liegt auch nicht ein derart langer Zeitraum, dass die Warn- und Besinnungsfunktion des Fahrverbots nicht mehr erreicht werden könnte (vgl. KG Berlin, Beschl. v. 25.7.2011 – (3) 1 Ss 119/11 (42/11)). … “
2 Anmerkung:
Das KG tangiert mit seiner Entscheidung gleich zwei wesentliche Aspekte des Verkehrsstrafrechts, einmal die Frage der Vorhersehbarkeit bei einem Fahrlässigkeitsvorwurf, hier § 229 StGB, zum anderen die Frage, welche Zeit verstrichen sein muss, um von einem Absehen vom Fahrverbot mangels Zweckerreichung Abstand zu nehmen.
Bezüglich der objektiven Vorhersehbarkeit des tatbestandlichen Erfolgs sind davon schon ausweislich der auch vom KG zitierten Rspr. des BGH nur Ereignisse ausgenommen, die so sehr außerhalb des Bereichs jeglicher Wahrscheinlichkeit und des nach der Lebenserfahrung Möglichen liegen, dass vernünftiger- und billigerweise niemand mit deren Eintritt zu rechnen braucht (König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Aufl. 2013, § 222 StGB, Rn 11). Die Vielzahl verkehrsrechtlicher Ge- und Verbote an sich zeigt dem Verkehrsteilnehmer schon auf, dass bei Übertretung die Gefahr eines Unfalls nahe liegt (OLG Karlsruhe NZV 1990, 199). Dies bedeutet gleichsam auch für den aufmerksamen Verkehrsteilnehmer, dass er sich nicht grenzenlos auf den Vertrauensgrundsatz (s. dazu NK-GVR/Kastenbauer, 1. Aufl. 2014, § 222 StGB, Rn 27) berufen kann, sondern auch in bestimmtem Umfang mit Verstößen anderer rechnen muss, da diese ständig möglich sind (BayObLG NZV 1989, 201; BayObLG DR 1978, 190).
Des Weiteren wird der Klassiker des Zeitablaufs zwischen Tat und Urteil für die Anordnung des Fahrverbots nach § 44 StGB angesprochen. Zunächst muss man sich darüber im Klaren sein, dass es einen Unterschied ausmacht, ob über den Zeitablauf für ein Fahrverbot in Strafsachen oder in Bußgeldsachen gesprochen wird (OLG Hamm DAR 2012, 340 – jurisPR-VerkR 2/2013 Anm. 4; OLG Hamm DAR 2011, 409): Der erzieherische Sinn und Zweck der Maßregel wird im Bußgeldrecht jedenfalls dann als zweifelhaft angesehen, wenn der zu ahndende Verkehrsverstoß deutlich mehr als zwei Jahre zurückliegt (OLG Hamm VRS 109, 118; OLG Köln StraFo 2004, 287; OLG Rostock zfs 2001, 383; BayObLG NZV 2004, 100), wobei der Zeitraum zwischen Tat und letzter tatrichterlicher Entscheidung relevant ist (OLG Stuttgart zfs 1998, 194; OLG Hamm DAR 2000, 580; OLG Brandenburg NZV 2005, 278; OLG Schleswig DAR 2000, 584). Für das Fahrverbot nach § 44 StGB wurden vereinzelt auch schon kürzere Zeiträume als zwei Jahre für ausreichend erachtet (BGH z...