Die beeindruckende Entscheidung des OLG München liegt auf einer Linie mit den in letzter Zeit ergangenen Urteilen des OLG Saarbrücken zfs 2014, 21 ff., OLG Saarbrücken zfs 2014, 384 und dem leider erst jetzt veröffentlichten Urteil des OLG Düsseldorf v. 1.4.2014 (DAR 2015, 330).
Gesichert ist in der Rspr., dass bei unstreitigem oder erwiesenem Vorliegen eines Primärschadens des Verletzten, dieser bei einem Folgeschaden das ihm günstige Beweismaß des § 287 ZPO für den Nachweis der Sekundärverletzungen genießt.
1. Für den Nachweis des Primärschadens muss allerdings dem Beweismaß des § 286 ZPO genügt werden, was der Senat zugrunde legen konnte. Soweit dies mit der allgemeinen Erwägung in Zweifel gezogen worden ist, dass bei Heckunfällen mit einer im Niedrigkeitsgeschwindigkeitsbereich zwischen 4 und 10 km/h schematisch von einer Harmlosigkeitsgrenze auszugehen sei, mit der Folge, dass eine Verletzung der HWS generell auszuschließen sei, ist ein solcher Grundsatz als verbindliche Beweiswürdigungsregel nicht anzuerkennen. Vielmehr ist eine umfassende Würdigung anzustellen, was sowohl für den Bereich des § 286 ZPO wie für den des § 287 ZPO gilt (vgl. BGH VersR 2003, 474, 475). Verfahrensfehlerfrei geht ein Gericht nur dann vor, wenn es unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses der Beweisaufnahme insb. auf der Grundlage der eingeholten Sachverständigengutachten nach freier Überzeugung entscheidet, ob es die Behauptung einer kollisionsbedingten HWS-Verletzung als bewiesen ansieht (vgl. BGH a.a.O.). Die angeführten Entscheidungen gehen davon aus, dass eine unfallbedingte Primärverletzung vorliegt.
2. Damit scheint sich die Problematik der Zurechnung behaupteter unfallbedingter Sekundärverletzungen in den Bereich der Beweiswürdigung nach § 287 ZPO zu verlagern. Ausgehend von einer – oft leicht – nachweisbaren Primärverletzung richtet sich die Zurechnung behaupteter Sekundärverletzung allein nach § 287 ZPO. Da behauptete Verletzungen durch die Untersuchungen struktureller Gegebenheiten oder bildgebender Verfahren jedenfalls naturwissenschaftlich nicht nachweisbar sind, was für die HWS-Distorsionen I und II nach Erdmann derzeit noch der Fall ist, bedarf es der Führung eines Indizbeweises. Welche behaupteten Schadensfolgen sind gesichert und erlauben den Schluss auf das Vorliegen einer unfallbedingten Sekundärverletzung?
Als überzeugenden Prüfungsmaßstab legt das OLG München zugrunde, das als Mindestmaß an die Beweisführung nach § 287 ZPO zu fordern ist, dass die unfallbedingte Entstehung und Fortdauer der behaupteten Beschwerden wahrscheinlicher ist als ihre unfallunabhängige Entstehung und Fortdauer. Diese Prüfung hat in erster Linie mit der Unterstützung von Sachverständigen zu erfolgen, wobei der Senat die Angaben der Geschädigten als Anknüpfungstatsachen zugrunde gelegt hat. Dieses Vorgehen entspricht der Auffassung des OLG Saarbrücken (zfs 2014, 21 ff.), das als Grundlage der Anknüpfungstatsachen für die Feststellung der Unfallbedingtheit von Sekundärverletzungen die Glaubhaftigkeit und Plausibilität des Vortrags des Geschädigten als verwertbare Grundlage der Feststellung eines HWS-Syndroms angesehen hat. Das hat eine bedeutsame Auswirkung für die Gewinnung dieser Überzeugung. Danach sind Äußerungen eines durch einen Verkehrsunfall Verletzten gegenüber den behandelnden Ärzten und Therapeuten sowie deren Beobachtungen und Einschätzungen im Rahmen der Beweiswürdigung mit einem erheblichen Stellenwert zu berücksichtigen, da anderenfalls einer Partei, die über nicht durch naturwissenschaftliche Methoden objektivierbare Beschwerden – wie es Schmerzzustände sein können – klagt, jede Möglichkeit genommen würde, ihren Vortrag zu beweisen (vgl. OLG Düsseldorf DAR 2015, 330).
Damit beginnt die Rspr. – bei aller Betonung des geringeren Beweiswertes – vorsichtig davon abzurücken, dass weder die Angaben des Geschädigten noch die des behandelnden Arztes nennenswerte Anhaltspunkte für die Feststellung von Sekundärverletzungen bieten; das dürfte ohnehin eine ungeprüfte, allzu generalisierte Beweiswürdigungsregel sein, die die Einzelfallprüfung der Beschwerden und ihrer Zurechnung nicht als entbehrlich erscheinen lässt. Ob Atteste von Kollegen, wie die medizinischen Gutachter Castro und Mazzotti meinen, für den medizinischen Gutachter wirklich von bloß untergeordneter Bedeutung sind (NZV 2008, 113, 114), ist eine juristische Frage, die bei der Gewinnung der von dem medizinische Gutachter zugrunde zu legenden Anknüpfungstatsachen zu prüfen ist.
RiOLG a.D. Heinz Diehl
zfs 9/2015, S. 500 - 503