VVG § 84; AKB 2008 A.2.17
Leitsatz
Die Berufung eines VR auf die Durchführung eines Sachverständigenverfahrens ist rechtsmissbräuchlich, wenn es um die Erstattung eines Kaskoschadens im untersten dreistelligen Bereich geht und der VR sich nicht vorgerichtlich darauf berufen hat.
(Leitsatz der Schriftleitung)
AG Lindau, Urt. v. 1.7.2015 – 2 C 79/15
1 Aus den Gründen:
" … Die Kl. hat gegen die Bekl. einen Freistellungsanspruch sowohl hinsichtlich der zusätzlichen Reparaturkosten als auch hinsichtlich der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten."
Die Bekl. kann mit ihrem Einwand, dass die Ansprüche nicht fällig seien, da zunächst ein Sachverständigenverfahren hätte durchgeführt werden müssen, nicht gehört werden. Das Gericht schließt sich hier der Entscheidung des LG Kempten v. 18.3.2015 an, in der entschieden worden ist, dass es rechtsmissbräuchlich sei, auf das Sachverständigenverfahren zu verweisen. Auch, wenn es sich im Fall des LG Kempten um einen zweistelligen Betrag und im konkreten Fall um einen dreistelligen Betrag handelt, so ist die Grenze zur Dreistelligkeit nur minimalst überschritten. Darüber hinaus erscheint es treuwidrig, wenn in der vorgerichtlichen Korrespondenz von Seiten der Bekl. nicht bereits der Einwand eines Sachverständigenverfahrens erhoben wird, sondern erst im Prozess. … “
2 Anmerkung:
Nach den AKB 2008 A.2.17 entscheidet bei Meinungsverschiedenheiten zur Schadenhöhe vor Klageerhebung ein Sachverständigenausschuss. Damit wird von der gesetzlichen Erlaubnis des § 84 Abs. 1 VVG Gebrauch gemacht, einzelne Voraussetzungen eines Entschädigungsanspruchs oder die Schadenshöhe "schiedsgutachterlich" feststellen zu lassen. Eine Bindung an solche Feststellungen entfällt nur dann, wenn sie offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abweichen. Gelegentlich wird das für VN zum Ärgernis, weil der Entschädigungsanspruch – beruft sich der VR auf AKB 2.6 – "noch" nicht fällig ist. Deshalb lohnt es, die Grenzen des "Sachverständigenverfahrens" zu kennen.
Zunächst gilt, dass der VR keinen seiner Angestellten als Sachverständigen benennen darf (BGH zfs 2015, 91). Das Sachverständigenverfahren dient im Übrigen allein der Klärung tatsächlicher Umstände; mit ihm kann keine bindende Entscheidung über rechtliche Grundlagen des Entschädigungsanspruchs oder seiner einzelnen Teile herbeigeführt werden (Stiefel/Maier/Meinecke, AKB, AKB A.2.17 Rn 1).
Sodann handelt es sich ungeachtet der AKB-Formulierung (in manchen wie jenen der abgedruckten Entscheidung zugrunde liegenden AVB findet sich das Wort "muss") um eine Einrede. Hat der VR den Anspruch des VN schon dem Grunde nach abgelehnt, kann er der klageweisen Geltendmachung des Anspruchs mit ihr nicht entgegentreten. Ihre Erhebung in zweiter Instanz wird – überwiegend – als zulässig erachtet (OLG Köln NVersZ 2002, 222). Dennoch kann es dem VR nach Treu und Glauben genommen sein, sich auf sein Recht zu berufen: Das ist der Fall, wenn es um Bagatellbeträge geht; weil in solchen Fällen ein VN davon abgehalten werden könnte, sie – oder einen Abzug in ihrer Höhe – geltend zu machen, dürfte der VR ein gerade für den VN aufwändiges und mit Kostenfolgen verbundenes (AKB 2008 A.2.17.4) Sachverständigenverfahren verlangen.
Trennscharf wird man die Bagatelle nicht bestimmen können – die abgedruckte Entscheidung geht allerdings über die bislang genannten zweistelligen Beträge zu Recht hinaus. Maßgeblich könnte insoweit sein, ob die im Unterliegensfall vom VN zu tragenden Kosten des Sachverständigenverfahrens den streitigen Schadensbetrag – also die Differenz dessen, was der VN verlangt zu demjenigen, was der VR anbietet – voraussichtlich erreichen oder überschreiten.
PräsOLG Prof. Dr. Roland Rixecker
zfs 9/2016, S. 519 - 520