StVO § 8 § 10
Leitsatz
1. Bei der Abgrenzung der Grundstücksausfahrt zu einer kreuzenden Straße ist auf das Gesamtbild abzustellen, das die Verkehrsbedeutung zeigt.
2. Da der Vorfahrtsberechtigte außerhalb des Einmündungs- und Kreuzungsbereichs nur auf der rechten Fahrbahn der untergeordneten Straße Vorrang genießt, darf der Wartepflichtige, ohne dass ihn ein Verstoß gegen § 8 StVO trifft, auf der für ihn rechten Fahrbahnseite bis zur Schnittstelle der Einmündung vorfahren und muss sich nur darauf einstellen, vor dem Fahrbahnrand der bevorrechtigten Straße anzuhalten.
(Leitsätze der Schriftleitung)
LG Saarbrücken, Urt. v. 27.4.2018 – 13 S 165/17
Sachverhalt
Die Fahrerin des Fahrzeugs des Kl. bog von dem Werksgelände einer Firma ab und wollte mit dem Fahrzeug nach links in eine Straße einbiegen. Dabei stieß sie mit dem Kfz des Erstbekl. zusammen, der von der Straße kommend nach links auf das Werksgelände einbiegen wollte. Die Parteien haben darüber gestritten, ob die Ausfahrt von dem Werksgelände als kreuzende Straße anzusehen sei und ob den beteiligten Fahrern eine Mitverantwortung an dem Eintritt des Unfalls zur Last zu legen sei.
Das AG hat nach Beweiserhebung der Klage auf der Grundlage von ⅓ zu ⅔ zu Lasten des Kl. stattgegeben. Die Berufung des Kl. hatte überwiegend Erfolg.
2 Aus den Gründen:
"… Die zulässige Berufung des Kl. ist überwiegend begründet, die zulässig erhobene Anschlussberufung unbegründet. Das Urt. des AG beruht auf einer Rechtsverletzung und die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen eine andere Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO)."
Zu Recht ist das Erstgericht allerdings zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Bekl. als auch der Kl. grds. für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem. §§ 7, 17 Abs. 1, 2 StVG i.V.m. § 115 VVG einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kfz entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellte. Dies wird durch die Berufung auch nicht angegriffen.
2. Im Rahmen der danach gebotenen Haftungsabwägung gem. § 17 Abs. 1, 2 StVG hat die Erstrichterin festgestellt, dass die Zeugin (…) unter Verstoß gegen § 10 StVO den Unfall verursacht habe. Dies hält berufungsgerichtlicher Überprüfung nicht stand. Anders als die Erstrichterin meint, ist der Anwendungsbereich des § 10 S. 1 StVO hier nicht eröffnet. Denn es handelt sich bei der Zuwegung zum Betriebsgelände der Fa. (…) nicht um eine Ausfahrt aus einem Grundstück i.S.d. § 10 S. 1 StVO, sondern um eine einmündende Straße i.S.d. § 8 StVO.
a) Die Frage, ob eine Grundstücksfläche als bloße Grundstücksausfahrt oder als einmündende oder kreuzende Straße einzuordnen ist, ist eine Frage tatrichterlicher Würdigung. Entscheidend ist die Verkehrsbedeutung, wie sie sich aus dem Gesamtbild der äußerlich erkennbaren Merkmale erschließt (vgl. stellv. nur Scholten, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 10 StVO Rn 26 m.w.N.). Danach weist die Zufahrt zum schrankengesicherten Betriebsgelände der Fa. (…) hier die typischen Merkmale einer Straße auf. Die Fahrbahn hat eine für Straßen übliche Breite mit durchgehender Asphaltierung zur (…)-Straße. Die Randsteine sind entsprechend der Richtung des einmündenden Bereichs in Trichterform verlegt. Es existiert ein von der Fahrbahn abgesetzter Bürgersteig. Die Beschilderung ist für Straßen üblich (Zeichen 133, 205, 253, 274, 350) und es finden sich für Straßen typische Markierungen (Zeichen 293 “Fußgängerüberweg'). Schließlich existiert auch keine Beschilderung, durch die das Befahren der Einfahrt beschränkt und bspw. nur Werksangehörigen vorbehalten würde (vgl. hierzu Kammer, Urt. v. 12.5.2017 – 13 S 184/16). Dass die Straße hier vorrangig, wenn nicht ausschließlich, der Zufahrt zum Werksgelände der Fa. (…) dient, ändert dabei an der rechtlichen Einordnung als Straße nichts (vgl. Kammer a.a.O.; dort ebenfalls Zufahrt zu einem Werksgelände).
b) Hiervon ausgehend hatte die Zeugin (…) beim Einfahren auf die (…)-Straße nicht den Sorgfaltsmaßstab des § 10 S. 1 StVO, sondern den des § 8 StVO (Vorfahrt) zu beachten. Dabei war sie gegenüber dem Verkehr auf der (…)-Straße gem. § 8 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StVO i.V.m. Zeichen 205 (“Vorfahrt gewähren') wartepflichtig. Allerdings kann ein Verstoß der Zeugin (…) gegen § 8 StVO nicht festgestellt werden.
aa) Zwar durfte die Zeugin (…) als Wartepflichtige den Erstbekl. als Vorfahrtsberechtigten bei dessen Abbiegen in die Zufahrtsstraße nicht wesentlich behindern (§ 8 Abs. 2 S. 4 StVO). Allerdings ist anerkannt, dass der Vorfahrtsberechtigte außerhalb des eigentlichen Einmündungs- bzw. Kreuzungsbereichs beim Abbiegen nur auf der rechten Fahrbahn der untergeordneten Straße Vorrang genießt, nicht dagegen auf der linken Fahrbahnseite der untergeordneten Straße (vgl. KG VersR 1994, 1085; KG, Urt. v. 23.2.1995 – 12 U 4356/93, juris; OLG Düsseldorf zfs 1980, 190; Spelz, in: Freymann/Wellner, jurisPK-StrVerkR, 1. Aufl., ...