Zur Erwerbsprognose in Deutschland und in der Schweiz mag folgende Metapher passend sein: Wenn man bei einer Bergwanderung auf halber Höhe steht, dann dominiert in Deutschland der Blick in die Tiefe. Es befällt den Wanderer ein Schwindelgefühl; es überkommt ihn die Furcht abzustürzen. In der Schweiz schweift an derselben Stelle der Blick auf das Gipfelkreuz im gleißenden Sonnenlicht; es dominiert die Vorfreude auf den bevorstehenden Aufstieg. Aus deutscher Sicht ist die Einschätzung denkbar: Älpler sind mit dem Weg nach oben in den Bergen eben besser vertraut; das ist ganz normal. Aber die Metapher lässt sich auf den Erwerbsschaden übertragen:
Bei Erwerbsschadensprognosen sind in deutschen höchstrichterlichen Entscheidungen folgende Hinweise dominant: Es ist fraglich, welches Einkommen in der Zukunft erzielt worden wäre. Nicht gesichert ist, dass es wirklich so aufwärts geht wie bisher oder das Niveau auch nur gehalten werden kann. Das Tatgericht kann die Risiken des Arbeitsmarktes durch entsprechende Abschläge berücksichtigen. Es dominiert die Skepsis. Die Anwälte der Ersatzpflichtigen haben mustergültig vorgetragen. Es erfolgt eine Übernahme von deren Position durch das Gericht.
In Entscheidungen des BG in der Schweiz finden sich häufig solche Passagen: Plausibel ist, dass eine erwerbstätige Person jedes Jahr zumindest eine Inflationsabgeltung erhält. Es gibt keine Gründe, dass nicht auch Arbeitnehmer am Wirtschaftswachstum teilhaben; und bei den allermeisten Menschen ist von einem beruflichen Aufstieg in ihrer Erwerbsbiographie auszugehen, jedenfalls bis zum 52. Lebensjahr, ehe es dann zu einer Abflachung ihres Einkommens bis zum Renteneintritt kommt, bei dem dann eine Zäsur im Sinn einer Einkommensverminderung passiert.
Diese unterschiedliche Sichtweise überrascht, besteht doch zwischen der Schweiz und Deutschland eine Kulturgemeinschaft; da und dort sind ähnlich ambitionierte Menschen in einem vergleichbaren Wirtschaftssystem tätig. Womöglich kommen unterschiedliche Fälle zum Höchstgericht bzw. werden von der Literatur besprochen. Das ist eher unwahrscheinlich. Eine andere Erklärungshypothese könnte sein, dass die tüchtigeren Anwälte in der Schweiz auf Seite der Geschädigten tätig sind, in Deutschland aber auf Seite der Ersatzpflichtigen. Wenn man als Professor Ausschau hält, wer die einschlägige Literatur und (Fachanwalts-)Ausbildungsszene für Verkehrsanwälte in Deutschland dominiert, dann sind es in Deutschland die – kompetenten – Anwälte der Defensivkanzleien, in der Schweiz jedoch die Anwälte der Geschädigten sowie die Sozialversicherungsträger.
In vielen Fällen hat die optimistische schweizerische Sichtweise ein höheres Maß an Plausibilität als die von Ängstlichkeit geprägte Sichtweise in Deutschland. Womöglich spielt für die Einschätzung in der Schweiz auch eine Rolle, dass dort mehr statistische Untersuchungen vorhanden sind, die diese Beobachtungen empirisch belegen, so dass sie für das Haftpflichtrecht fruchtbar gemacht werden können. Wenn es daran in Deutschland fehlen sollte, möge man auch dazu den Ausspruch von Angela Merkel beherzigen: "Wir schaffen das." Der Österreicher wünscht dazu alles Gute.