Die Bemessung von Ersatzleistungen für künftige Nachteile ist in jeder Rechtsordnung vorzunehmen. Während in der Schweiz der Geschädigte ein Wahlrecht zwischen Kapital und Rente hat, wobei die Kapitalisierung der Rente die längste Zeit die nahezu einzige Art der Ersatzleistung war, sehen das deutsche und österreichische Recht allein eine Rente vor, so § 843 Abs. 1 BGB im deutschen Recht sowie § 1325 ABGB im österreichischen Recht für die Hauptfälle des Erwerbsschadens und der vermehrten Bedürfnisse unter Einschluss des Haushaltsführungsschadens, wobei für den Unterhaltsersatz (§ 844 Abs. 2 BGB, § 1327 ABGB) Entsprechendes gilt.
Nur bei einem wichtigen Grund kann der Anspruchsteller nach § 843 Abs. 3 bzw. § 14 Abs. 3 EKHG einen Kapitalbetrag verlangen. Ein solcher ist – außerhalb von Lehrbuchbeispielen – in der Praxis kaum jemals gegeben: Genannt wird etwa die Gründung eines eigenen Unternehmens; für einen Querschnittgelähmten ist eine solche Verletzung freilich meist nicht der opportune Moment, um ein solches Wagnis einzugehen. Genannt wird zudem die Gefahr, dass der Schuldner sich ins Ausland absetzt. Abgesehen davon, dass in den allermeisten Fällen hinter dem Schädiger eine Haftpflichtversicherung steht, gegen die man den Schadenersatzanspruch auch bei Insolvenz des Schädigers wegen des in § 110 VVG bzw. § 157 VersVG gegebenen Absonderungsrechts durchsetzen kann, ist wegen der verbesserten Rechtshilfemöglichkeiten auf europäischer Ebene als Ausland wohl erst eine Rechtsordnung außerhalb der EU anzusehen. Auch der nahende BREXIT dürfte an diesem Befund kaum etwas ändern, mag sich so mancher insolvente Schuldner auch dorthin begeben, weil die Zeiträume für eine Restschuldbefreiung auf der "Insel" geringer sind als in Deutschland oder Österreich.
Ungeachtet der – praktischen – Versagung eines gesetzlichen Anspruchs auf Kapitalisierung hat diese in der Praxis große Bedeutung. Sie bringt beiden Parteien Vorteile: Der Haftpflichtversicherer kann die Akte schließen. Der Geschädigtenanwalt verdient eine nach dem Abfindungsbetrag bemessene hohe Vergleichsgebühr. Der körperlich angeschlagene Anspruchsteller wird davor bewahrt, sich auch in Zukunft abermals als Bittsteller an den Haftpflichtversicherer wenden zu müssen.
Zu beobachten ist indes, dass häufig sowohl der Anspruchsteller als auch womöglich dessen Anwalt geblendet sind von der Höhe der Einmalzahlung. Der Haftpflichtversicherer hat ein deutlich größeres Know-how. Die Abschätzung künftiger Risiken sowie die Umrechnung einer Rente in einen Kapitalbetrag zählen zu dessen Kernkompetenzen. Da die Umrechnung im rechtsfreien Raum erfolgt, sind die Modalitäten Verhandlungssache. Der Geschädigte muss dabei Abstriche in Kauf nehmen. Wenn er statt der Rente einen Kapitalbetrag will, muss er "die Krot' schlucken".
Auf diesem Gebiet besteht eine beeindruckende Unwissenheit und Naivität von sehr vielen an der Schadensregulierung beteiligten Personen: "Iudex non calculat", hieß es schon im römischen Recht. Viel dürfte sich in den letzten 2000 Jahren daran nicht geändert haben. Und der (Geschädigten-)Anwalt ist im Rechnen meist nicht viel besser. Als Mitglied der österreichischen Schadenersatzreformkommission habe ich darauf hingewiesen, dass es sich insoweit um eine regelungsbedürftige Materie handle, die der Gesetzgeber aufgreifen sollte. Die Antwort von allen anderen "Experten" der Gruppe war jedoch, dass das eine rein versicherungsmathematische, keine schadenersatzrechtliche Frage sei. Aus meiner Sicht ist das Ausdruck eines "beachtlichen Unverständnisses". In Deutschland ist das Problembewusstsein deutlich weiter fortgeschritten, als immerhin der Verkehrsgerichtstag 2019 im Arbeitskreis IV sich dieses Themas annehmen wird.