I. Greifbare Umstände bei künftigen Schäden soweit wie möglich berücksichtigen
Diese Aussage findet sich häufig in gerichtlichen Entscheidungen. Bei einem Abgleich dieser Aussage mit der Wirklichkeit stellt man jedoch fest: Der Blick reicht häufig nur bis zum Ende der mündlichen Hauptverhandlung erster Instanz. Alles, was danach kommt, ähnelt dem Blick des Vogels Strauß. Dieser steckt den Kopf in den Sand; dadurch ist der Blick getrübt, wodurch er nicht besonders viel von seiner Umwelt wahrnimmt. Warum ist das so?
Nach meiner Einschätzung erfolgte eine Traumatisierung durch die Entscheidung des RG vom 4.10.1934: Das RG hatte damals folgende Prognose gewagt:
Zitat
"Wegen der erfolgreichen Anstrengungen der seit kurzem im Amt befindlichen Reichsregierung wird der Geschädigte im Jahr 1943 trotz seiner Verletzung nicht ohne Arbeit sein."
In seiner treffsicheren Analyse bemerkte Steffen mit der ihm eigenen Ironie, dass es ein Treppenwitz der Geschichte sei, dass die national verengte Pupille der Richter fast ins Schwarze getroffen hätte, nur, dass auf den Mann nicht die Lohntüte wartete, sondern das Soldbuch.
Das Postulat "soweit wie möglich die künftige Entwicklung schon im Urteil zu berücksichtigen, soweit Anhaltspunkte einigermaßen greifbar sind," verkommt in der Alltagspraxis zum bloßen Lippenbekenntnis; es ist jedenfalls nicht gelebte Wirklichkeit. Einzuräumen ist, dass das Deuten von Kaffeesud nicht zur Kernkompetenz von Zivilgerichten zählt. Deutsche Gerichte sind weder das Orakel von Delphi noch Auguren, die den Götterwillen nach dem Geschrei der Vögel ermitteln; und auch keine Sterndeuter.
Erlaubt sei aber die Arbeitshypothese: Das RG hat sich zu sehr aus dem Fenster gelehnt. Als Reaktion wurde aber in der Folge das Kind mit dem Bad ausgeschüttet. Heute werden Entscheidungen oft bei geschlossenem Fenster und zugezogenen Vorhängen getroffen. Der Tadel an die Gerichte ist freilich insoweit zu relativieren, als diese lediglich über die von anwaltlich vertretenen Parteien erhobenen Begehren entscheiden; und insoweit geht es allein um Stattgebung oder Abweisung, im Regelfall aber nicht um einen Zuspruch über das Begehren hinaus. Der Schwarze Peter liegt daher eigentlich bei den (Opfer-)Anwälten.
II. Wenn die Zukunft ganz unwägbar ist: Feststellungsklage
Wenn die künftige Entwicklung noch gar nicht abschätzbar ist, bringt der Geschädigtenanwalt eine Feststellungsklage ein. Durch ein stattgebendes Urteil ist der Grund des Anspruchs künftig dann nicht mehr strittig: Es erfolgt die Festlegung der Mitverschuldensquote bzw. der Abwägung der Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge. Ist ein Primärschaden eingetreten, ist die Erhebung einer Feststellungsklage schon zur Abwendung der Verjährung ratsam. Womöglich wird die Vorhersehbarkeit künftiger Schäden vom Gericht nämlich ex post gegenteilig beurteilt. Ex post sind wir meist viel schlauer als ex ante. Die Kenntnis, wie es nachher gewesen ist, beeinflusst aber mitunter auch die Beurteilung, was man ex ante hätte erkennen können.
Zu beachten ist, dass eine Feststellungsklage sich aber stets nur auf künftige Schäden bezieht, wobei die Beurteilung, was ein künftiger Schaden ist, nach dem Zeitpunkt der Einbringung der Klage zu beurteilen ist. Meist ist die Erhebung einer Feststellungsklage aber nicht nur ratsam, sondern sogar geboten. Bei vorhersehbaren, aber dem Umfang nach nicht bezifferbaren Schäden trifft den Geschädigten eine Obliegenheit, eine solche zu erheben. Wird das unterlassen, führt das beim Vermögenspersonenschaden zur Verjährung, beim Schmerzensgeld sogar zur Präklusion der Abgeltung für diese ideellen Nachteile. Das wäre ein anwaltlicher Kunstfehler.
III. Wenn die Zukunft einigermaßen abschätzbar ist: Alternative zwischen einer abschließenden Regulierung und der Eröffnung von Abänderungsmöglichkeiten
1. Unterschiedliche Rechtslage in der Schweiz einerseits sowie in Deutschland und Österreich andererseits
Im schweizerischen Recht dominiert der Gedanke der zeitnahen, abschließenden Regulierung eines Personenschadens: Schon die Verjährungsfristen sind kürzer. Die kenntnisabhängige Frist beträgt laut Art. 60 Abs. 1 OR ein Jahr statt wie nach österreichischem Recht nach § 1489 ABGB und im deutschen Recht nach §§ 195, 199 Abs. 1 BGB drei Jahre – im deutschen Recht noch dazu ab dem Ende des Jahres, in dem der Anspruch fällig geworden ist. Die lange Frist beträgt bei Körperschäden nach Art. 60 Abs. 2 OR zehn Jahre statt wie nach § 1489 ABGB und § 199 Abs. 2 BGB 30 Jahre.
In der Schweiz gebührt im Regelfall Kapital statt Rente. Da es sich um einen gesetzlichen Anspruch handelt, ist eine richterliche Überprüfung der Umrechnung von Kapital in Rente möglich und umgekehrt. Es besteht in Bezug auf die Kapitalisierung das höchste Know-how im deutschsprachigen Rechtskreis. Bei Zuspruch eines Kapitalbetrags erfolgt eine abschließende Regulierung.
Aber auch bei Zuerkennung einer Rente ist diese nur begrenzt abänderbar. Es handelt sich um eine "starre Rente". Je weniger konkrete Anhaltspunkte im Einzelfall ge...