Fakt ist, dass wir immer älter werden, was immer die Gründe sein mögen. In der Bahnhofstraße in Zürich ist ein großes Plakat einer Versicherung angebracht, auf dem zu lesen steht: "Ihre Enkel werden bereits 100 Jahre alt. Haben Sie alles bei Ihrer Pensionsvorsorge bedacht?" Damit ist auf den Punkt gebracht, worum es geht. Je aktuellere Sterbetafeln für die Berechnung einer Kapitalabfindung verwendet werden, umso vorteilhafter ist das für den Anspruchsteller. Nur auf diese Weise wird die vor uns liegende Zukunft angemessen abgebildet:
Heilungskosten und Pflegeleistungen werden stärker steigen als der Verbraucherpreisindex, weil keine Dämpfung der Inflation durch Konsumgüter wie Handys und Computer stattfindet, die durch den technischen Fortschritt immer billiger werden. Beim Abstellen auf die Kosten einer Ersatzkraft, sei es bei den Pflege- oder Haushaltsdienstleistungen, ist davon auszugehen, dass bei den Löhnen auch solche Arbeitskräfte eine Teilhabe am Wirtschaftswachstum haben werden. Beim Erwerbsschaden ist zu berücksichtigen, dass viele Menschen im Laufe ihres Lebens einen beruflichen Aufstieg haben.
Die wichtigste, für alle Schadenersatzrenten bedeutsamste Stellschraube ist der Kapitalisierungszinssatz. Im Standardwerk von Küppersbusch/Höher findet sich unter Berufung auf die einzige seit dem Zweiten Weltkrieg ergangene BGH-Entscheidung ein Verweis auf den üblichen Zinssatz von 5 %; und im Anhang finden sich Kapitalisierungstabellen zwischen 4 % und 7 %, woraus der Eindruck entsteht, dass die 5 % eher noch im unteren Bereich angesiedelt sind. Freilich ist eine Kapitalisierung auf der Basis von 5 % jedenfalls derzeit – um einen von Lemcke in ganz anderem Zusammenhang gebrauchten Begriff zu verwenden – "himmelschreiendes Unrecht": Außer Streit stehen sollte, dass Kapital und Rente unterschiedliche Modalitäten darstellen, um den beim Geschädigten eingetretenen Schaden auszugleichen; dadurch soll freilich kein unterschiedliches wirtschaftliches Ergebnis herauskommen. Der Haftpflichtversicherer ist weder ein Gutsherr noch eine sozial-karitative Einrichtung, die jeweils Almosen verteilen; vielmehr erfüllt er eine seinen Versicherungsnehmer treffende gesetzliche Schadenersatzpflicht.
In Deutschland und Österreich steht außer Streit, dass mit der Kapitalabfindung der Anspruchsteller die Möglichkeit haben soll, bei mündelsicherer Veranlagung einen Betrag zu erwirtschaften, der einer Rente entspricht, wobei die Zinserträge zu berücksichtigen sind. Je höher der Zinssatz und damit die Zinserträge sind, umso geringer ist der Barwert und umgekehrt. Ein hoher Zinssatz ist bei der Kapitalisierung einer Rente naturgemäß für den Ersatzpflichtigen von Vorteil, weil er zu einem geringen Barwert führt – wie umgekehrt ein geringer Zinssatz für den Geschädigten von Vorteil ist, weil er zu einem tendenziell hohen Barwert führt. Der Umstand, dass bei einer Kapitalzahlung im Vergleich zur an sich geschuldeten Rente vor Fälligkeit geleistet wird, wirkt sich dann weniger stark aus.
Der als üblich bezeichnete Kapitalisierungszinsfuß von 5 % ist – jedenfalls derzeit – maßlos überzogen. Die (einzige) Referenzentscheidung des BGH erging Anfang 1981. Für Tagesgeld bekam man damals in Österreich über 10 % Zinsen, und das galt ebenso für Staatsanleihen mit längerer Laufzeit; in Deutschland wird das ähnlich gewesen sein. Nach Abzug der 25 %-igen Abgeltungssteuer auf die Zinsen kam man somit auf eine Nettorendite von ca. 7,5 %. Davon wäre allerdings die Inflation, die damals ebenfalls beträchtlich war, noch in Abzug zu bringen gewesen, so dass der vom BGH für angemessen erachtete Kapitalisierungszinssatz von 5 % selbst damals zu hoch gewesen sein dürfte.
Wie sieht es aber mit den Zinserträgen heute aus? Staatsanleihen mit fünf- bis zehnjähriger Laufzeit weisen eine negative Verzinsung auf; und eine österreichische Staatsanliehe mit 100-jähriger Laufzeit und einer Verzinsung von 2,11 % war innerhalb weniger Stunden dreifach überzeichnet. Bei Unfallopfern geht es aber um deutlich kürzere Zeiträume! Sollten Staatsanleihen – anders als früher – kein Referenzpunkt für erzielbare Zinsen sein, so käme alternativ in Betracht die Veranlagung von Festgeldern bei (Online-)Banken, für die der Staat für die Einlagen – bis zu 100.000 EUR – eine Garantie übernimmt, wobei dem veranlagenden Geschädigten weder ein Währungs- noch ein Steuerrisiko – bei Veranlagung im EU-Ausland – auferlegt werden darf.
Nach Abzug der Abgeltungssteuer wird sich derzeit kaum mehr als 0,5 % erwirtschaften lassen. Wenn man bedenkt, dass der "Garantiezinssatz" bei der Lebensversicherung bei zwölfjähriger Bindung im Moment bei 0,9 % liegt, Bausparkassen sich mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zur Wehr setzen, um nicht bei der Veranlagung von stehengelassenen Bauspareinlagen 3 % oder 3,5 % zahlen zu müssen, ist die Ungeheuerlichkeit mit Händen zu greifen, dass man dem unerfahrenen Verbraucher abverlangt, eine Rendite von 7,5 % (vor Steuern) – bei mündelsicherer...