Leitsatz
1. Ein Gericht wie das vorlegende, bei dem eine Berufung gegen die Entscheidung eines mit der Führung des Handelsregisters betrauten Gerichts anhängig ist, das einen Antrag auf Änderung einer Angabe in diesem Register abgelehnt hat, ist als Gericht anzusehen, das nach Art. 234 EG zur Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens befugt ist, obwohl weder die Entscheidung des Handelsregistergerichts in einem streitigen Verfahren ergeht noch die Prüfung der Berufung durch das vorlegende Gericht in einem solchen erfolgt.
2. Ein Gericht wie das vorlegende, dessen in einem Rechtsstreit wie dem des Ausgangsverfahrens ergangene Entscheidungen Gegenstand einer Revision sein können, kann nicht als Gericht i.S.v. Art. 234 Abs. 3 EG angesehen werden, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können.
3. Art. 234 Abs. 2 EG ist bei nationalen Rechtsvorschriften über das Recht, gegen eine Entscheidung, mit der ein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt wird, Rechtsmittel einzulegen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass das Ausgangsverfahren insgesamt beim vorlegenden Gericht anhängig bleibt und nur die Vorlageentscheidung Gegenstand eines beschränkten Rechtsmittels ist, dahin auszulegen, dass die mit dieser Vertragsbestimmung den nationalen Gerichten eingeräumte Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs nicht durch die Anwendung dieser Rechtsvorschriften infrage gestellt werden darf, nach denen das Rechtsmittelgericht die Entscheidung, mit der die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof beschlossen wird, abändern, außer Kraft setzen und dem Gericht, das diese Entscheidung erlassen hat, aufgeben kann, das nationale Verfahren, das ausgesetzt worden war, fortzusetzen.
4. Die Art. 43 EG und 48 EG sind beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die es einer nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft verwehren, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen und dabei ihre Eigenschaft als Gesellschaft des nationalen Rechts des Mitgliedstaats, nach dessen Recht sie gegründet wurde, zu behalten.
Normenkette
Art. 43, Art. 48, Art. 234 EG
Sachverhalt
Cartesio wurde in der Rechtsform einer "betéti társaság" (KG) ungarischen Rechts gegründet. Als ihr Sitz wurde Baja (Ungarn) festgelegt. Sie wurde am 11.06.2004 ins Handelsregister eingetragen.
Kommanditist und Komplementär der Gesellschaft sind zwei natürliche Personen, die in Ungarn ansässig sind und die ungarische Staatsangehörigkeit besitzen.
Cartesio stellte beim zuständigen Handelsregistergericht einen Antrag, die Verlegung ihres Sitzes nach Gallarate (Italien) zu bestätigen und die Sitzangabe im Handelsregister entsprechend zu ändern.
Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass eine in Ungarn gegründete Gesellschaft nach geltendem ungarischem Recht ihren Sitz nicht unter Beibehaltung des ungarischen Personalstatuts ins Ausland verlegen könne.
Cartesio hat gegen diese Entscheidung Berufung eingelegt.
Unter Bezugnahme auf das EuGH-Urteil vom 13.12.2005, Rs. C-411/03"SEVIC Systems" (Slg. 2005, I-0805) machte Cartesio geltend, das ungarische Gesetz verstoße insoweit, als es Handelsgesellschaften unterschiedlich behandle, je nachdem, in welchem Mitgliedstaat sich ihr Sitz befinde, gegen die Art. 43 EG und 48 EG. Aus diesen Artikeln ergebe sich, da das ungarische Gesetz den ungarischen Gesellschaften nicht vorschreiben könne, Ungarn als Sitzland zu wählen.
Die Sache geriet als Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH, …
Entscheidung
… welcher die Sache anders einschätzte: In der Rechtssache "SEVIC" sei es um etwas ganz anderes gegangen, nämlich um die Anerkennung – im Mitgliedstaat der Gründung einer Gesellschaft – der Niederlassung dieser Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat im Weg einer grenzüberschreitenden Verschmelzung. Das habe mit der "bloßen" Sitzverlegung ins Ausland nichts zu tun.
Hinweis
1. Es handelt sich um das Vorabentscheidungsersuchen eines ungarischen Handelsregistergerichts an den EuGH. Die aus den Leitsätzen ersichtlichen vorlagespezifischen Überlegungen mögen dabei für diese Praxis-Hinweise dahinstehen.
2. Von weiterführender Relevanz ist jedoch vor allem der Leitsatz 4.
Er betrifft die Frage danach, ob der jeweilige Mitgliedstaat das Recht hat, "seinen" Gesellschaften, also jenen Gesellschaften die nach "seinem" innerstaatlichen Recht gegründet worden sind, innerstaatlich diese mit der Gründung erlangte "Eigenschaft", die es diesen Gesellschaften ermöglicht, "in den Genuss der Niederlassungsfreiheit" gem. Art. 43 EG zu gelangen, dann auch wieder zu entziehen, wenn sich eine solche Gesellschaft entschließt, ihren Sitz in das EU-Ausland zu verlegen und wenn sie dadurch "die Anknüpfung löst, die das nationale Recht des Gründungsmitgliedstaats vorsieht".
Kurzum: Der EuGH bejaht dieses "wegzugsbeschränkende" Recht des einzelnen Mitgliedstaats. Dieser kann sowo...