Leitsatz
Die Prüfung, ob die Räumungsvollstreckung bei einem hochbetagten Schuldner wegen schwerwiegender gesundheitlicher Risiken eine mit den guten Sitten unvereinbare Härte i. S. d. § 765a ZPO darstellt, ist nicht auf eine akute Lebensgefahr während des Räumungsvorgangs selbst zu beschränken; in die Beurteilung einzubeziehen sind auch schwerwiegende gesundheitliche Risiken, die aus einem Wechsel der gewohnten Umgebung resultieren.
(amtlicher Leitsatz des BGH)
Normenkette
ZPO § 765a
Kommentar
Die Mieterin ist 96 Jahre alt und leidet an einer demenziellen Erkrankung. Aufgrund eines rechtskräftigen Urteils ist sie zur Räumung und Herausgabe ihrer Wohnung verpflichtet. Aus diesem Urteil betreibt der Vermieter die Zwangsräumung. Die Mieterin hat Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO beantragt. Sie hat hierzu drei Atteste von internistischen und neurologischen Fachärzten vorgelegt. Danach ist die Durchführung der Zwangsräumung für die Mieterin wegen der damit verbundenen Aufregung mit Lebensgefahr verbunden. Zu demselben Ergebnis kommt das Gutachten eines Amtsarztes. Ein anderer Amtsarzt hat in seiner Stellungnahme allerdings ausgeführt, dass keine unmittelbare Lebensgefahr bestehe. Das Amtsgericht hat den Vollstreckungsschutzantrag unter Berufung auf diese Stellungnahme zurückgewiesen; die Beschwerde zum Landgericht blieb ohne Erfolg.
Der BGH hat die Beschwerdeentscheidung aufgehoben: Nach § 765a ZPO kann einem Mieter Vollstreckungsschutz gewährt werden, wenn die Durchführung der Zwangsräumung eine Härte darstellt, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist.
Der BGH führt dazu aus, dass die Entscheidung über die Einstellung der Zwangsvollstreckung stets und ausnahmslos eine umfassende Interessenabwägung voraussetzt. Das Gericht muss
- ermitteln, welche Härtegründe in der Person des Mieters vorliegen,
- feststellen, welches Interesse der Vermieter an der Räumung hat und
- untersuchen, welche Maßnahmen in Betracht kommen, um die Härten zu mindern oder zu beseitigen.
Vorliegend beanstandet der BGH, dass sich das Gericht über die ärztlichen Atteste und Stellungnahmen hinweggesetzt hat, nach denen die Zwangsräumung mit einer Lebensgefahr für die Mieterin verbunden ist: "... in Anbetracht der unterschiedlichen Ergebnisse der ärztlichen Stellungnahmen ... hätte das Beschwerdegericht ... eine ergänzende ärztliche Begutachtung unter Einbeziehung sämtlicher ärztlicher Stellungnahmen einholen müssen." Die Prüfung darf sich nicht darauf beschränken, ob die Zwangsräumung als solche ohne Gefahr für das Leben oder die Gesundheit durchgeführt werden kann. Vielmehr sind auch eventuelle weitere Beeinträchtigungen, die sich insbesondere aus der Anpassung an eine fremde Umgebung ergeben können, zu berücksichtigen.
Link zur Entscheidung
BGH, Beschluss vom 13.08.2009, I ZB 11/09, NJW 2009 S. 3440