Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Prozesskostenhilfeantrag (PKH-Antrag) als Wiedereinsetzungsgrund in gerichtskostenfreien Verfahren. Anhörungsrüge. Frist zur Einlegung und Erfüllung der Darlegungserfordernisse. Voraussetzung: vollständiger und verbescheidungsfähiger PKH-Antrag. Fristbeginn. Falschinformation des Bevollmächtigten oder Vorenthalten eines Beschlusses durch den Antragsteller
Leitsatz (amtlich)
1. Ob ein PKH-Antrag überhaupt geeignet ist, eine Wiedereinsetzung in gesetzliche Fristen in gerichtskostenfreien erst- und zweitinstanzlichen, also nicht anwaltspflichtigen, sozialgerichtlichen Verfahren zu begründen, ist fraglich (vgl LSG München vom 7.2.2024 - L 2 U 184/23 = Breith 2024, 627 ; OVG Lüneburg vom 25.2.2008 - 4 PA 390/07 ; OVG Berlin-Brandenburg vom 12.4.2023 - OVG 6 M 25/23 ).
2. Voraussetzung dafür, dass bei der Beantragung von PKH für ein Verfahren der Anhörungsrüge ein unverschuldeter Hinderungsgrund, das Darlegungserfordernis fristgerecht zu erfüllen, gegeben ist, ist jedenfalls, dass der PKH-Antrag innerhalb der Darlegungsfrist vollständig und damit verbescheidungsfähig gestellt worden ist.
Orientierungssatz
Eine Falschinformation des Bevollmächtigten durch den Antragsteller bzw das Vorenthalten eines dem Antragsteller zugestellten Beschlusses gegenüber dem Bevollmächtigten ist einem bewussten Sich-Verschließen vor der erforderlichen Kenntnisnahme gleichzusetzen, das dem Ingangsetzen der Frist für die Einlegung und Erfüllung des Darlegungserfordernisses der Anhörungsrüge nicht entgegensteht (vgl BVerfG vom 14.4.2010 - 1 BvR 299/10 = NJW-RR 2010, 1215 ).
Tenor
I. Die Anhörungsrüge gegen den Beschluss vom 06.05.2024, L 2 U 116/24 B ER, wird als unzulässig verworfen.
II. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Verfahren der Anhörungsrüge wird abgelehnt.
III. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Mit Beschluss vom 06.05.2024, L 2 U 116/24 B ER, wies der Senat die Beschwerde der im erstinstanzlichen Verfahren anwaltlich vertretenen Antragstellerin und Beschwerdeführerin (im Folgenden: Antragstellerin) gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) München vom 26.03.2024 zurück, mit dem es das SG abgelehnt hatte, die Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin nach wiederholtem Antrag der Antragstellerin zu verpflichten, Leistungen zur Teilhabe im Wege des Arbeitgebermodells (persönliches Budget i.S.d.§ 29 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch ) anstelle im Dienstleistungsmodell zu erbringen.
Der Beschluss vom 06.05.2024 wurde der im Beschwerdeverfahren unvertretenen Antragstellerin mit Postzustellungsurkunde am 08.05.2024 zugestellt. Mit gerichtlichem Schreiben vom 21.05.2024 wurde der vorgenannte Beschluss der Antragstellerin, die eine starke Sehbehinderung angibt, nach gerichtsextern in Auftrag gegebener Übertragung auf Audio-CD auch in Form einer Audio-CD übermittelt.
Am 21.05.2024 hat sich der Bevollmächtigte der Antragstellerin unter Vorlage einer Vollmacht der Antragstellerin vom selben Tag bestellt. Die Antragstellerin habe - so der Bevollmächtigte - am 25.04.2024 gegen einen Beschluss Beschwerde eingelegt. Auf einen Anruf der Antragstellerin beim Bayer. Landessozialgericht (LSG) sei ihr telefonisch mitgeteilt worden, dass ihre Beschwerde abgelehnt worden sei. "Etwas Schriftliches" - so der Bevollmächtigte - "hat die Antragstellerin nach eigenen Angaben nicht erhalten." Die Antragstellerin sei in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Sie habe keine Möglichkeit gehabt, sich weiter zu äußern. Die Antragstellerin habe zudem bereits darauf hingewiesen, dass sie auf Audiodateien angewiesen sei, da sie stark sehbehindert sei. Diese habe sie nicht erhalten. Weiter hat der Bevollmächtigte beantragt, der Antragstellerin Prozesskostenhilfe (PKH) zu bewilligen, ihn beizuordnen und ihm Akteneinsicht zu gewähren.
Mit gerichtlichem Schreiben vom 28.05.2024 ist dem Bevollmächtigten Akteneinsicht gewährt worden.
Am 12.06.2024 hat der Bevollmächtigte die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Antragstellerin samt Anlagen vorgelegt.
II.
Die Anhörungsrüge ist zwar fristgerecht erhoben worden (s. unten Ziff. 3), aber wegen Nichterfüllung des Darlegungserfordernisses (s. unten Ziff. 4) als unzulässig zu verwerfen. Eine Wiedereinsetzung in die Frist des § 178a Abs. 2 Satz 1 SGG wegen der Erfüllung des Darlegungserfordernisses kommt nicht in Betracht (s. unten Ziff. 5). Der Antrag auf Bewilligung von PKH für das Verfahren der Anhörungsrüge ist abzulehnen, weil die Frist für die Erfüllung des Darlegungserfordernisses ohne entsprechende Darlegung abgelaufen ist und die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vorliegen und somit keine Aussicht auf Erfolg der Anhörungsrüge besteht (s. unten Ziff. 5).
1. Anhörungsrüge - allgemein
Gemäß § 178a Abs. 2 Satz 5 SGG muss eine Anhörungsrüge die angegriffene Entscheidung bezeichnen und das Vorliegen der in § 178a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG gen...