Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende: Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitssuche. Freizügigkeitsberechtigung als Verwandter bei Erhalt einer Unterhaltsleistung von einem volljährigen Kind
Leitsatz (amtlich)
Einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II kann eine Freizügigkeitsberechtigung eines Leistungsberechtigten als Verwandten in aufsteigender Linie, der von seinem volljährigen Kind Unterhalt erhält (§ 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU), entgegen stehen.
Für die Freizügigkeitsberechtigung nach § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU kommt es nicht darauf an, ob ein Unterhaltsanspruch tatsächlich besteht und ob der gewährte Unterhalt den vollständigen Bedarf im Umfange der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II deckt.
Es ist ausreichend, wenn die Unterhaltsleistung nicht völlig unwesentlich ist und aus einem Teil des Erwerbseinkommens des Unterhaltsleistenden stammt, der im Hinblick auf die in § 11b SGB II vorgesehenen Absetzbeträge nicht als Einkommen im Rahmen dessen Bezug von aufstockenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes angerechnet wird.
Tenor
I. Ziffern I. und II. des Beschlusses des Sozialgerichts Nürnberg vom 07.09.2018 werden teilweise aufgehoben und der Antragsgegner wird verurteilt, der Antragstellerin ab 01.11.2018 bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis 31.05.2019, vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II in Höhe von monatlich 393,70 € zu zahlen.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
II. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die Hälfte ihrer außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.
III. Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für das Beschwerdeverfahren bewilligt und Rechtsanwältin T., A-Stadt, beigeordnet.
Gründe
I.
Streitig sind im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II -Alg II-) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die 1964 geborene Antragstellerin (ASt) ist bulgarische Staatsangehörige und reiste im September 2016 gemeinsam mit ihrer 1987 geborenen Tochter in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie bewohnen gemeinsam eine von der Tochter angemietete Ein-Zimmer-Wohnung mit 39 qm (Grundmiete 400 €, Betriebskosten 35 €, Heizkosten 60 € und Warmwasserkosten 50 €). Die Tochter ist erwerbstätig und bezieht zu ihrem Erwerbseinkommen, das von Dezember 2017 bis Oktober 2018 zwischen monatlich 550,70 € und 840,44 € netto betrug (zuletzt für Oktober 2018: 755,29 € netto), aufstockendes Alg II vom Ag. Zuletzt wurden mit Bescheid vom 28.08.2018 vorläufig 207,19 € monatlich für September 2018 bis Februar 2019 unter Berücksichtigung der Hälfte der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung bewilligt. Die ASt übt keine Erwerbstätigkeit aus.
Nachdem ein im Januar 2018 gestellter Antrag der ASt auf Alg II vom Ag mit Bescheid vom 09.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.04.2018 abgelehnt worden war, beantragte sie am 26.06.2018 erneut Alg II. Sie wohne zurzeit mietfrei bei ihrer Tochter. Den Antrag lehnte der Ag mit Bescheid vom 27.06.2018 wiederum ab. Es bestehe kein Anspruch, da sich das Aufenthaltsrecht der ASt alleine zum Zwecke der Arbeitssuche ergebe. Dagegen legte die ASt Widerspruch ein. Ihre Tochter trage alleine die Miete und die Kosten für Lebensmittel sowie notwendige Medikamente. Da die Tochter nur Teilzeit arbeite, könne sie sie nicht stärker unterstützen. Wegen einer Kostenübernahmeerklärung für eine Krankenhausbehandlung habe sie sich sogar für sie verschuldet. Wegen des von der Tochter seit Oktober 2016 gewährten Unterhalts stehe ihr ein Freizügigkeitsrecht zu. Den Widerspruch wies der Ag mit Widerspruchsbescheid vom 12.09.2018 zurück. Zwar könne es sein, dass die Tochter Unterhalt in Naturalien gewähre und die Unterkunftskosten vorstrecke. Würde die ASt Alg II erhalten, entfiele die Unterhaltsgewährung durch die Tochter und damit das Aufenthaltsrecht der ASt nach § 3 Abs 2 Nr 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) wieder. Im Übrigen würden die Unterhaltsleistungen jedenfalls zum Teil aus Mitteln des Ag stammen. Dagegen hat die ASt Klage beim Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben.
Die ASt hat beim SG einstweiligen Rechtsschutz hinsichtlich der Zahlung von Alg II unter Berücksichtigung der hälftigen Unterkunfts- und Heizkosten beantragt. Die Tochter gehe einer Teilzeitbeschäftigung nach und beziehe aufstockend Alg II. Nachdem diese zuletzt einige Vertretungen übernommen habe, sei das Gehalt höher ausgefallen, werde ab September 2018 aber wieder nur bei ca 500 € netto liegen. Die gesamten Miet- und Heizkosten bezahle die Tochter, so dass für deren eigenen Lebensunterhalt und für ihren Lebensbedarf nur ein relativ geringer Überschuss zum Leben verbleibe. Sie selbst absolviere derzeit eine Maßnahme im Rahmen eines Integrationsprojekts, erhalte dabei aber keine Leistungen zum Lebensunterhalt. Das Sozialamt habe ihr gesagt...